Ein Erbe der Menschheit realisieren
Bager Rosa
1. Teil: Erfahrungen und Schwachpunkte globaler Befreiungsbewegung
Widerstand gegen jede Form von Unterdrückung und Ausbeutung und die Suche nach Freiheit sind gesellschaftliche Realitäten, die kein Herrschaftssystem jemals hat auslöschen können. In diesen gesellschaftlichen Widerständen und Kämpfen für ein Leben in Würde, Freiheit und Gleichheit spiegeln sich grundlegende menschliche Werte, wie Gewissen und Moral, kollektive Erinnerungskultur, gesellschaftliches Bewusstsein und die Kunst politischer Selbstorganisierung und -führung. Alle diese Kämpfe bilden eine Einheit, eine so gut wie ungeschriebene Geschichte entgegen der Geschichte der zentralistisch-herrschaftlichen Zivilisation – einer Zivilisation, die sich auf Staat, Klassenherrschaft und die Aneignung der gesellschaftlichen Werte stützt und sich seit 5000 Jahren mit der Natur, den freien, ursprünglichen Gesellschaften und dem Erbe der matrizentrischen Kultur im Krieg befindet. Diese Zivilisation war stets dazu gezwungen Mittel zu finden, den Geist dieses gesellschaftlichen Erbes von Gleichheit und Freiheit zu brechen und der Bewusstwerdung der unterworfenen Gesellschaften und deren Emanzipation zuvorzukommen. In der Geschichte stoßen wir auf drei große Linien gesellschaftlichen Widerstands: zum einen moralischer und sozialer Widerstand in der Tradition kämpfender Gemeinschaften im Inneren (revoltierende SklavInnen, freie Städte, rebellische BäuerInnen) oder außerhalb (Indigene, Nomadisierende) der zentralistischen Zivilisation; zweitens geistig-ideeller und ethischer Widerstand in der Tradition von Propheten, Heiligen, PhilosophInnen, weisen Frauen, Alchimisten und daraus entstehende Glaubensbewegungen; zum Dritten die Tradition des Marxismus-Leninismus, die das Bewusstsein gesellschaftlichen historischen Widerstands in organisiert-ideologische Form und politischen Kampf überführt.
Verankerung des Nationalstaats als neues Herrschaftsmodell
Nach dreihundert Jahren Machtentfaltung erreichte das System der kapitalistischen Moderne im 19. Jahrhundert durch Industrialismus und Kolonialismus einen vorläufigen Höhepunkt, die unterworfenen Gesellschaften wurden mit umfassender Sklaverei, Assimilation und Genozid überzogen. Mit der Verankerung des Nationalstaats als neues Herrschaftsmodell sollte das gesellschaftliche Bewusstsein durch Konkurrenzlogik, Kriegskultur und Chauvinismus auf der ideologischen Grundlage von Nationalismus an das neue Herrschaftssystem gebunden und so von gesellschaftlicher Selbstverteidigung, Bewusstwerdung und Widerstand gegen Ausbeutung und kulturelle Entfremdung abgebracht werden. Gegen dieses Projekt der zentralistisch-herrschaftlichen Zivilisation entwickelte sich die sozialistische Linie des Befreiungskampfes und Widerstands auf der Grundlage der philosophischen Arbeiten von Marx und Engels. Mit der Entstehung sozialistischer Bewegungen in allen industrialisierten Ländern wurde der Gedanke des Internationalismus zu einer strategischen Grundlinie des Befreiungskampfes. Gegen die chauvinistische Logik von Nationalismus und Feindschaft zwischen den Völkern und die kalte Logik des globalen Kapitals wurde der Geist des Internationalismus Quelle von Hoffnung und Utopien der Unterdrückten. Mit dem Aufruf »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« dauert dieser Kampf seit 150 Jahren an.
Krise der progressiven, freiheitlichen und sozialistischen Kräfte Europas
Als wir in den 1990er und 2000er Jahren begannen, uns auf den Spuren dieses Erbes revolutionärer Tradition zu bewegen, steckten die progressiven, freiheitlichen und sozialistischen Kräfte Europas in einer tiefen Krise. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus hatte das System der kapitalistischen Moderne, allen voran ein neu vereinter deutscher Nationalstaat, seinen Sieg und das Ende der Geschichte ausgerufen. Gegen die deutsche Gesellschaft lief eine breit angelegte Operation, um neoliberales Lohnarbeitsregime, Bürokratie und Polizeistaat zu verankern; gleichzeitig wurde das durch geschürten Nationalismus ideologisch kaschiert. Faschistische Banden waren auf dem Vormarsch. Gedanken und Hoffnungen, die sich Revolution und Sozialismus verschrieben hatten, stießen auf massive Gegenpropaganda und Verleumdung. Die alten nationalen Befreiungsbewegungen Europas in Irland (Irish Republican Army – Irisch-Republikanische Armee) und dem Baskenland (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit) konnten ihre ideologische Schwäche nicht überwinden und wurden vom System isoliert. Überreste der Stadtguerilla waren in den Untergrund gezwungen oder erklärten ihre Selbstauflösung. Das Erbe der 68er war zu großen Teilen vom System assimiliert worden (wie feministische und ökologische Bewegungen) oder setzte seine marginalisierte Existenz (wie anarchistische Milieus und sektiererische K-Gruppen) in Nischen und Subkulturen fort.
Erbe des revolutionären Internationalismus als Quelle von Hoffnung und Siegesgewissheit
Ohne Utopien sind Widerstand und Kampf auf lange Dauer nicht möglich. Wir waren in diesem gesellschaftlichen Klima des ideellen Genozids aufgewachsen – ein Genozid, der sich vor allem gegen die Hoffnung, den Glauben und ideell-moralischen Widerstand der Gesellschaft, kurz gegen die Denkbarkeit eines anderen Lebens, richtete. Ein Anschluss an die linke Szene geschah in dieser Zeit oft aus einer Haltung von Rebellentum heraus, aus emotionaler Ablehnung des gesellschaftlichen Zustands, als Aufbegehren gegen die Gewissenlosigkeit und Kälte des Systems. Moralische Selbstbehauptung und Widerstand des Gewissens führten natürlicherweise in die Reihen der antifaschistischen Bewegung und Ablehnung jeglichen Nationalchauvinismus. Antifaschistische Selbstverteidigung gegen faschistische Banden war die Aufgabe der Zeit. Gegen diesen Zustand wurde der gefühlten Bewegungslosigkeit zum Trotz das Erbe des revolutionären Internationalismus für uns zur Quelle von Hoffnung und Siegesgewissheit. In gewisser Weise stellte diese universelle Linie gesellschaftlichen Widerstands unsere geheime Führung dar. Gegen ein liberales System, Verwaltungs- und Polizeiregime, das trügerische Normalität, Befriedung und ein Leben in Entfremdung durchzusetzen versuchte, schlossen wir uns im Geiste dieser internationalistischen Linie des Kampfes und der Behauptung sozialistischer Werte an. Diese geheime Führung, noch unbewusst und ohne klaren Ausdruck, sollte uns schließlich bis ins Herz der Revolution von Kurdistan führen und uns zur Auseinandersetzung mit der Frage der wahren revolutionären Führung bringen. Es heißt, dass unsere heutige Situation nur im Hinblick auf die Geschichte und gesellschaftlichen Kämpfe aller Zeiten verstanden werden kann. Wenn wir uns dem Ziel und dem Kampf für eine freie Gesellschaft und universelle menschliche und sozialistische Werte verschreiben, wenn wir uns einer Welt der Unterwerfung und Ausbeutung entgegenstellen, muss uns klar sein, dass wir nur in Verbindung mit der Erfahrung aller revolutionären Kämpfe, die uns vorangingen, erfolgreich sein können. So wie das System der kapitalistischen Moderne heute auf globaler Ebene sein Projekt der Unterwerfung und Ausbeutung etablieren will, muss der Kampf für eine andere Welt, die ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Würde zu Grunde legt, ebenfalls auf globaler Ebene geführt werden. Die Tradition des revolutionären Internationalismus hat in der Geschichte eine Vielzahl von Erfahrungen und Werten hervorgebracht, die bis heute Bedeutung haben und für unseren Kampf und Weg wichtige Lektionen darstellen. Wir können diese Werte historischen Widerstands anhand einiger Beispiele aufgreifen, um ihr Grundverständnis richtig einordnen zu können:
a) Die Erfahrung der Internationale. Im 19. Jahrhundert entstanden in den industrialisierten Ländern Europas und Nordamerikas große ArbeiterInnenbewegungen. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Widersprüche zwischen den imperialen Mächten zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, bot sich dem System die Gelegenheit, Millionen von Arbeitern auf dem Schlachtfeld zu massakrieren und so einer sozialistischen Revolution vorzugreifen. Die reformistischen sozialdemokratischen Kräfte schwenkten auf die Linie von Kriegsjubel und Nationalchauvinismus ein und warfen sich so den imperialen Kräften in die Arme. Gegen Kriegspolitik und Kollaboration verteidigten in Deutschland Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg eine radikale Haltung internationaler Solidarität und des Bündnisses aller Arbeitenden und Unterdrückten gegen das kapitalistische System. Mit dem Sieg der Russischen Revolution unter Führung der Bolschewiki und der Organisierung der Kommunistischen Internationale (KomIntern) entstand zum ersten Mal eine Führungsorganisation, die sich der Unterstützung sozialistischer Revolutionen auch in anderen Ländern verschrieb. Das Paradigma des Marxismus-Leninismus auf Grundlage der Hegelschen Philosophie krankte daran, dass die Idee des Nationalstaats in Form der Diktatur des Proletariats auch im Realsozialismus weiterbestand – der Gedanke, dass sich eine Gesellschaft in Form des Staates organisieren und sich so in Richtung Freiheit bewegen könne, stellt bis heute einen der größten Irrtümer der marxistischen Tradition dar. Die Staatsbezogenheit sowie Stalins Prinzip vom »Sozialismus in einem Land« sorgten dafür, dass die KomIntern sich schnell zu einem Machtwerkzeug in Händen eines Industriestaates verwandelte, der damit seine diplomatisch-politischen und militärischen Interessen durchsetzte. Ungezählte Militante und RevolutionärInnen, die sich der Idee der Internationale verschrieben, wurden zu Opfern von Stalins Machtpolitik, die Verrat an internationalistischen Werten übte und Hunderte KommunistInnen an Nazideutschland auslieferte.
b) Die Erfahrung des Spanischen Bürgerkriegs und der Internationalen Brigaden. 1936 gingen die Gesellschaften Spaniens zu umfassendem Widerstand gegen den Militärputsch der Faschisten über. Die Antwort der Arbeitenden, Bauern und Frauen auf den Putschversuch war die soziale Revolution auf Grundlage anarchistischer Selbstorganisation. Ein Rätesystem und Selbstverteidigungsmilizen entstanden; durch den Aufruf der antifaschistischen Regierung der sozialistischen Partei und der KomIntern strömten Tausende Kommunisten und Sozialisten ins Land, um sich den Internationalen Brigaden anzuschließen. Die Niederlage der antifaschistischen Kräfte lässt sich anhand von zwei Punkten festmachen: Anstatt die Revolution und umfassende gesellschaftliche Mobilisierung und Organisierung der Selbstverteidigung durch Milizen zu fördern, beharrte die sozialistische Regierung auf einer konservativen und zentralistischen Politik, die »zuerst den Sieg über die Faschisten, danach die soziale Revolution« propagierte. Auf diese Weise wurden Errungenschaften der Revolution beseitigt, unter Regierungskontrolle gebracht und so die Widerstandskraft der Gesellschaft geschwächt. Zweitens sorgte die Anbindung der Internationalen Brigaden an die sozialistische Regierung und die Praxis der KomIntern unter der Regie Stalins als diplomatische Waffe dafür, dass das Schicksal Spaniens auf der Ebene zwischenstaatlicher Machtpolitik besiegelt wurde. Wegen der zweischneidigen Rolle der Internationalen Brigaden und der Zersetzung der antifaschistischen Kräfte durch staatliche Machtpolitik im Inneren und auf internationaler Ebene wurde Spanien zu einer schmerzvollen Erfahrung und einem bedeutungsvollen Beispiel internationalen Befreiungskampfes.
c) Nationale Befreiung und die Revolte von 1968. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in einer Vielzahl von Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens nationale Befreiungsbewegungen gegen koloniale Besatzung. In dieser Phase des internationalen Befreiungskampfes konnten wichtige Erfahrungen in Theorie und Praxis gesammelt werden; in Befreiungskriegen wurden gegen die imperialistische Hegemonie und Besatzerarmeen bedeutende Siege errungen. In den sechziger und siebziger Jahren entwickelte sich ein internationalistischer Geist, der Gesellschaften unter Besatzung und Fremdherrschaft Selbstvertrauen und Widerstandskraft verlieh. Das Bewusstsein über die Einheit aller Befreiungskämpfe offenbarte sich auch im Bündnis fortschrittlicher und sozialistischer Kräfte innerhalb der Metropole, die in Solidarität und für gegenseitige Unterstützung in Beziehung zu antikolonialen Befreiungsbewegungen traten und durch Unterstützung der Sowjetunion einen Gegenpol zur Hegemonie der führenden kapitalistischen Staaten bildeten. Maos Strategie des Guerillakriegs hatte die Chinesische Revolution zum Sieg geführt. Die Art der Guerillakriegsführung als verlängerter Volkskrieg, die ihr eigene Form der Organisierung und Taktiken entwickelte sich zum Erfolgsrezept unterdrückter Gesellschaften im Kampf um Befreiung gegen technologisch überlegene Besatzerarmeen. Die Brüder Raúl und Fidél Castro bewiesen auf Cuba die Übertragbarkeit des Guerillakonzepts. Da die Guerilla ihre Kraft aus den Dorfkommunen und der kommunalen Basis der Gesellschaft gewinnt, sich dezentral organisiert und vor allem dem Freiheitsdrang und Willen der Gesellschaft nach Selbstbestimmung eine Form verleiht, konnten in vielen Ländern die Besatzerarmeen nicht lange standhalten. Zur Unterstützung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) in Algerien entstanden in Frankreich zum ersten Mal breite Unterstützungsnetzwerke. In Verbindung mit dem Befreiungskampf in Algerien sind insbesondere die Arbeiten des Psychologen Frantz Fanon von Bedeutung; sein Werk »Die Verdammten dieser Erde« stellt ein Manifest der antikolonialen Befreiung dar. Vor allem widmete er sich der Untersuchung psychischer Auswirkungen kolonialer Herrschaft und arbeitete zu Strategien der Befreiung. Nur durch das Ausprägen einer eigenen Identität und eines kollektiven Bewusstseins des Widerstands kann die Psychologie der Sklaverei überwunden und Befreiung nachhaltig erzielt werden. Aus der Erfahrung gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit in Brasilien entwickelte Paolo Freire sein Konzept der Bildung als Praxis der Freiheit. Vor allem ist es von Bedeutung zu verstehen, wie die Kämpfe und Erfahrungen dieser Zeit und Epoche des Freiheitskampfes einander antworten, sich wechselseitig verstärken und ein internationalistisches Bewusstsein über die Einheit all dieser Kämpfe schaffen. Mit dem Vietnamkrieg und der Jugendrevolte von 1968 erreicht diese Epoche des Befreiungskampfes ihren Höhepunkt. Die Einheit des Kampfes in der Metropole (in den industrialisierten Ländern Westeuropas und Nordamerikas) und den Ländern unter kolonialer Besatzung begründet ein gemeinsames Bewusstsein über die Möglichkeit globaler Befreiung. Die Armeewerdung der vietnamesischen Bevölkerung und die Entwicklung der Stadtguerilla stellen wichtige Erfahrungen und eine Vertiefung der militärstrategischen Linie des Kampfes dar. Die Kämpfe und Versuche von 68 stellen dabei nicht nur die Suche nach einer Alternative zum kapitalistischen Herrschaftssystem dar, sondern versuchen auch neue Wege gegenüber den Fehlern und Mängeln des Realsozialismus und der Sowjetunion zu finden. Aus den Versuchen dieser Zeit konnte sich einzig die PKK behaupten, zu einer nachhaltigen Kraft werden und ein eigenes revolutionäres Führungsprinzip entwickeln. Die militärischen Siege nationaler Befreiungsbewegungen konnten einer Vereinnahmung und Einverleibung durch das kapitalistische System nicht vorgreifen; Befreiungsbewegungen gingen im nationalstaatlichen Modell der Moderne auf und konnten der herrschaftlichen Mentalität und Organisierung keine gesellschaftliche Alternative entgegenstellen. Die Bewegungen der Metropole wie die Black Panther Party, die Roten Brigaden und die späten Generationen der RAF konnten in Ermangelung von Rückzugsgebieten isoliert werden und wurden letztendlich unter den Angriffen geheimdienstlicher Aufstandsbekämpfungsprogramme zersetzt.
d) Vorstoß des Neoliberalismus und Antiglobalisierungsbewegung. In den achtziger Jahren gingen die führenden Staaten der kapitalistischen Moderne dazu über, ihr Konzept globaler neoliberaler Herrschaft umzusetzen, das auf Vereinnahmung und Einbeziehung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche in die Ordnung des Finanzkapitalismus zielt. Als neues globales Kontrollprojekt wurde die Politik des Grünen Gürtels und die Schaffung eines politischen Islams vorangetrieben – in den achtziger Jahren als Eindämmung der Sowjetunion, die in Bürokratismus und Konservativismus erstarrt war, und nach deren Zusammenbruch als Projekt der globalen Neuordnung. Mit dem Aufbau von Gladio wurden geheime NATO-Programme zur Aufstandsbekämpfung vor allem in Deutschland, Italien und der Türkei ins Leben gerufen. In Lateinamerika und andernorts wurden durch Militärkampagnen, paramilitärische Kriegsführung und mit Hilfe von Agentenstaaten Konterrevolutionen durchgeführt. Mit wenigen Ausnahmen wie der Befreiungsbewegung in Kurdistan und der kolumbianischen Guerilla gerieten revolutionäre Kräfte weltweit in die Defensive. Linke Kräfte in der Metropole versuchten vor allem durch theoretische Arbeiten und Analysen, Alternativen zu denken und Fehler früherer revolutionärer Versuche zu verarbeiten und zu überwinden. Die führenden G8-Staaten trieben auf Gipfeln ihr Projekt globaler Hegemonie voran, wogegen sich eine globalisierungskritische Bewegung in Form von Gegengipfeln (wie dem Weltsozialforum von Porto Alegre) und Gipfelprotesten formierte. Trotz aller Bestrebungen konnte die Antiglobalisierungsbewegung keine nachhaltige Alternative formulieren, keinen effektiven Selbstschutz entwickeln oder den eigenen Protestcharakter überwinden. Eine wichtige Erfahrung stellen das Netzwerk Peoples‘ Global Action und sein Organisierungsmodell dar. Zur Koordinierung und Absprache über Gipfelmobilisierungen und Perspektivdiskussionen wurde ein Netzwerk nationaler und regionaler Komitees auf globaler Ebene geschaffen. Dieses Netzwerk verband unterschiedlichste Bewegungen von Indigenen-Kommunen, australischen Aborigines und indischen KommunistInnen bis hin zu europäischen AnarchistInnen, russischen FeministInnen und kanadischen Öko-AktivistInnen. Auf Grund ihres Potentials, eine neue internationalistische Kraft zu formieren, sahen sich die Bewegung und führende AktivistInnen bei den G8-Gipfel-Protesten im italienischen Genua mit einem umfassenden Angriff und Folter durch Polizei und Geheimdienste konfrontiert, was die Bewegung im Keim erstickte, bevor sie eine klare Form annehmen konnte.
e) Der zapatistische Aufstand und Zeitenwende der natürlichen Gesellschaft. Als die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) Neujahr 1994 im Südosten Mexikos zum Aufstand überging, zog sie unmittelbar die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich. Der zapatistische Aufstand begann genau am Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko und gewann auf diese Weise die Symbolkraft eines Kampfes der Würde und Hoffnung gegen ein System totaler Herrschaft und neoliberaler Sklaverei und Ausbeutung. Der Aufstand, der sich auf die ländlichen indigenen Dorfkommunen stützt, greift dabei auf eine tiefe mythologische Tradition natürlicher Gesellschaftlichkeit und 500 Jahre des Kampfes gegen koloniale Unterwerfung, Ausbeutung und Genozid zurück. Er ist dabei vor allem an den Kampf Emiliano Zapatas in der Mexikanischen Revolution 1910–1920 angelehnt, als Vorbild und Namensgeber repräsentiert er die revolutionäre Führung der Unterdrückten. Die Zapatistas ziehen ihre Stärke aus der Verbindung kommunaler Werte und natürlicher Gesellschaftlichkeit mit sozialistischer Philosophie, einer organisierten Struktur von Militanten, Guerillakampf und Milizsystem als Selbstverteidigungskonzept. Gegen die mexikanische neoliberale und US-konforme Regierung (die »schlechte Regierung«) hat die Bewegung ein eigenes System demokratischer Autonomie aus Räten, Kommunen, Frauenbewegung, Bildungs- und Gesundheitssystem als »Gute Regierung« aufgebaut. Dem Aufstand 1994 waren zehn Jahre der geheimen Organisierung und Vorbereitung vorangegangen. Aus einem Denken, das sich an die gesellschaftliche Wirklichkeit und mythologische Traditionen anlehnt, wurden Selbstführungsprinzipien entwickelt, die sich ganzheitliche Einbeziehung und Veränderung zur Grundlage nehmen und in Prinzipien wie »fragendes Voranschreiten« (als Methode der Einheit von Theorie und Praxis) und »gehorchendes Befehlen« (als Prinzip von Leitung und Verantwortung) ausgedrückt sind. Der Kampf der Zapatistas gründet sich sowohl auf ein tiefes kulturelles indigenes Erbe und eine entsprechende Identität als auch auf breite nationale, regionale und internationale Bündnisse gegen das System der zentralistischen und herrschaftlichen Zivilisation. Mit der »Anderen Kampagne« wurde eine nationale Kampagne zur Demokratisierung Mexikos ins Leben gerufen. Insbesondere ist lehrreich, wie die Zapatistas Medien, Sichtbarkeit und Klandestinität bewusst und kreativ als Selbstschutzmechanismus, Bündniswerkzeug und Inspiration von Bewegungen weltweit als strategische Waffe nutzen. Seit 2013 wurden mit dem Projekt der »Kleinen Schule« internationalistische Akademien in zapatistischem Gebiet geschaffen, über Internet wurden für Verbündete Seminare über Autonomie und revolutionäre Erfahrung organisiert. Der zapatistische Kampf spielt dabei eine strategische Rolle für die lateinamerikanischen Gesellschaften. Die Rolle und Lage Mexikos gegenüber den USA ist vergleichbar mit der Rolle und Lage der Türkei gegenüber der EU und deren Stabilität. Entsprechend vehement ist der Versuch des Systems, den Kampf der Zapatistas durch Ökonomieprojekte gegen die gesellschaftliche Basis der Bewegung und Kriegsführung niederer Intensität durch Kontras abzuwürgen. Trotz aller Versuche leisten die Zapatistas Widerstand und stellen heute eines der bedeutendsten und führendsten Projekte zum Aufbau einer demokratischen Moderne dar.