Im ersten Moment, wenn wir in den Mittleren Osten kommen und besonders nach Rojava, müssen wir alles neu lernen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir eigentlich nicht sehr viel von der Realität hier verstanden haben. Alles was wir gelesen, gehört und diskutiert haben gibt und vielleicht eine Idee, einen leisen Hauch von Rojava, aber wenn wir hier sind, ist doch alles anders.
Warum bin ich hergekommen? Ich möchte eine Revolutionärin werden, ich möchte meinen Willen stärken, und wissen, was das heißt, Krieg. Das Leid verstehen, die tausenden und abertausenden von Märtyrern. Wirklich verstehen, was es heißt, wenn in einer Stadt wie Kobanê so gut wie keine Familie gibt, die nicht im weiteren Kreis ein Familienmitglied hat, das im Widerstand gegen Islamismus gefallen ist. Und das verstehen, das hinter diesem ganzen Leid steckt. Ich möchte die Wahrheit von Krieg verstehen, sehr gut verstehen, wie der Feind handelt, also Staaten, die ganze Bevölkerungsgruppen auslöschen wollen, und gleichzeitig meine Hoffnung auf Veränderung und mein Streben nach Freiheit unendlich groß machen.
Wir sind nach Kobanê gegangen, in die Stadt, die einen monumentalen Wendepunkt im Widerstand gegen den Islamischen Staat eingeleitet hat. Direkt zu Beginn besuchen wir den Şehidlik, den Friedhof der Märtyrer. Reihen von Reihen von Reihen von Märtyrern liegen hier. Als der Şehidlik gebaut wurde, soll der Verantwortliche sich die Pläne angeguckt haben und gesagt haben «Das ist zu klein.» Er wusste, dass in der Verteidigung der Revolution in Kobanê noch viele mehr fallen würden.
Wir besuchen dann eine Familie, in der zwei Kinder Sehid gefallen sind. Im Eingangsbereich hängen ihre Bilder und Gedenktafeln mit ihren Namen. Die Familie ist sehr stolz auf den Kampf, den ihre Kinder geleistet haben. Sie ist eine der hunderten und tausenden Familien, die ihre Kinder, Partner und Eltern im Widerstand verloren haben und stolz zu ihnen aufblicken. Wir stehen um einen Couchtisch herum, unter dessen Glasplatte Gegenstände liegen, die die Märtyrer bei sich getragen haben, ein Bild, ein Messer, ein paar Steine, eine Uhr. An uns vorbei laufen Freunde, die die Familie besuchen, Tee trinken, diskutieren und dann weiter zur nächsten Familie gehen.
Am nächsten Tag gehen wir weiter. Die Stadt war fast vollständig durch die Panzer und Bomben von Daesh zerstört worden, und das meiste ist wieder aufgebaut, aber ein kleiner Teil am Rand der Stadt wurde so gelassen, wie der Krieg ihn gemacht hat. Er ist jetzt ein Museum, durch das man durchlaufen kann. Wir laufen Treppen hoch in einem Haus, dessen eine Seite runterhängt, die durch Bomben zerstört wurde. Ein Freund führt uns durch die zwei Straßen vorbei an den Ruinen. Als Kobanê sich gegen den IS verteidigt hat, hat er in diesem Teil der Stadt mit den anderen Freundinnen und Freunden gekämpft. Auf der einen Seite dieses Museums ist die Stadt, die wieder aufgebaut wurde, und in der das Leben weitergeht. Auf der anderen Seite ist die Grenze nach Nordkurdistan, zur Türkei. Hinter der türkischen Grenze sehen wir grüne Wiesen, ein paar Häuser und eine riesige türkische Flagge. An der türkischen Grenze haben wir sonst nie so eine Flagge gesehen. Diese Flagge, direkt vor den Toren der Stadt, vor dem Stadtteil, der in Schutt und Asche liegt, ist eine offene Drohung. Die Türkei ist mit dem IS eng verbunden, hat ihn mit finanziert und aufgebaut. Auch heute ist sie mit der aus der fundamentalistischen Al-Nusra stammenden Regierung Syriens politisch und ökonomisch verbunden. Auch in dieser Phase von Frieden und Demokratie, die von Rêber Apo eingeleitet wurde, finanziert und lenkt der türkische Staat Milizen, die in Syrien und spezifische gegen die Selbstverwaltung in Nordostsyrien Krieg führen. Die Flagge ist eine Erinnerung an die kriegerische Politik des türkischen Staats, sie verfolgt keinen anderen Zweck.
Wir bleiben an einem Baum stehen. Wir haben alle den Film über Kobanê gesehen und uns wird klar, dass wir den Baum daher alle kennen. In diesem Baum hat sich ein IS-Sniper versteckt gehalten und tagelang Freunde gezielt ermordet, die in diesem Viertel Widerstand geleistet haben, und tagelang wusste niemand, wieso die Freunde sterben, bis ein junger Freund, Şehid Rencber, der auf dem Motorrad rein und raus aus dem Gefecht gefahren ist, ihn entdeckt hat. Er hat Munition zu den Freunden gebracht und verletzte Freunde aus dem Kampfgebiet heraus. Ohne ihn hätten die Freunde nicht weiter Widerstand leisten können. Später in den Gefechten ist er selbst gefallen.
Wir gehen weiter und mit jedem Schritt und jedem Halt wird uns klarer, was es bedeutet, dass Krieg ist. Die Bilder, die wir in den Nachrichten gesehen haben, werden lebendig, die Filme, die wir gesehen haben, vor unseren Augen Realität. Wir kommen am mala hevalan, am Haus der Freunde an. Als Kobanê fast komplett eingenommen war, war das Haus der Freunde der letzte Ort, der noch verteidigt wurde. Es war der Rückzugsort. Der Freund, mit dem wir unterwegs sind, hat diese Haus verteidigt, und sagt uns, dass er wusste: wenn dieses Haus fällt, dann fällt Kobanê. Von drei Seiten aus wurde es beschossen und bombardiert, Daesh hat in die unterste Etage Autos mit Sprengstoffen und Selbstmordattentätern gelenkt. Es war nicht möglich, diesen Angriffen Stand zu halten, die Situation war völlig aussichtslos, sagt der Freund. Und trotzdem haben sie weitergekämpft, die Freunde aus Rojava, die Guerilla aus den Bergen, Jugendliche, die mit der Realität, ihre Stadt zu verteidigen, konfrontiert waren und zu den Waffen gegriffen haben. Sie wären alle dafür gestorben, dass dieses Haus, dass diese Stadt nicht untergeht. Ich schaue den Freund an, und versuche, zu verstehen, wie das ist, in so einer Situation Hoffnung zu haben. Es gab nicht die Möglichkeit, aufzugeben. Seine Freunde sind neben ihm gefallen, aufzuhören, wäre Verrat. Wir nehmen das mit auf unsere Reise. Wir kämpfen ja auch, mit unseren Persönlichkeiten, die von unserem Aufwachsen in den kapitalistischen Metropolen Europas beeinflusst sind, miteinander, weil wir durch Individualismus voneinander getrennt sind. Nicht mehr gegen diese Trennung zu kämpfen, nicht zu Revolutionär/innen zu werden, würde heißen, dass wir die, die ihr Leben für ein freies Leben gegeben haben, zurücklassen.
Ich bin Internationalistin aus einem Land, das so einen Krieg seit Generationen nicht gesehen hat. Je mehr wir der Realität des Krieges näherkommen, sie sehen und hören und anfassen können, desto mehr tut es auch weh, dass wir nicht verstehen und dass so eine große Schlucht zwischen uns gezogen wurde. Wir haben so einen Schmerz nie gefühlt, haben so einen Widerstand nicht geleistet. Es braucht Mühe und den aufrichtigen Willen, zu verstehen. Dass wir nicht verstehen heißt nicht, dass wir nicht verstehen können. Der Freund sagt, er freut sich darüber, dass wir uns annähern und die Geschichte des kurdischen Volks verstehen wollen. Wenn wir es wollen, sind wir Teil von dieser Revolution.