Ein Erbe der Menschheit realisieren
Bager Rosa
2. Teil: Kontinuität des internationalistischen Befreiungskampfes und die Frage der revolutionären Führung
Was wir zeigen wollen, das ist die Kontinuität und der Erfahrungsreichtum des internationalistischen Befreiungskampfes. Die Tradition des revolutionären Internationalismus stellt gewissermaßen die bewusstgewordene Linie historischer gesellschaftlicher Widerstände und deren Aktualisierung dar. Praktisch war der Freiheitskampf immer internationalistisch. Insbesondere die reiche Widerstandstradition der Gesellschaften des Mittleren Ostens von Zarathustra, Babek und den Churramiten bis zur Haltung Mahir Çayans und der Revolution in Kurdistan belegen diese jahrtausendealte Linie gesellschaftlichen Freiheitskampfes auf beeindruckende Weise. Das Bewusstwerden über die Werte und Errungenschaften, die Erfahrungen und die Einheit dieser internationalen Kämpfe bildet die Grundlage eines sozialistischen Bewusstseins und des Projektes einer demokratischen Moderne.Die Frage der revolutionären Führung, die einer Gesellschaft zur Selbsterneuerung verhelfen kann, ist seit dem Entstehen der sozialistischen Bewegung in allen Versuchen und Aufbrüchen des Freiheitskampfes Gegenstand von Diskussionen und Kontroversen. Eine Gesellschaft, die mit ihrem kulturellen Erbe verbunden ist, über moralische Maßstäbe und politisches Bewusstsein verfügt, ist in der Lage, sich selbst zu führen, Grundnotwendigkeiten und Selbstverteidigung zu organisieren und gesellschaftliches Leben nachhaltig zu ermöglichen. Eine Gesellschaft, die nicht über die Kraft der Selbstführung verfügt, ist stets Unterwerfung, Besatzung, Ausbeutung, Entfremdung, Assimilation und Genozid ausgesetzt. Herrschaftssysteme aller Zeiten waren stets bemüht, die Gesellschaft ihrer Selbstführungskraft zu entfremden und bewusstlos zu halten, um sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Der erste und vehementeste Angriff des Herrschaftssystems zielte zuerst immer auf die Frau und ihre gesellschaftliche Rolle als natürliche Führungskraft, moralische Instanz und organisatorisches Zentrum. Die älteste Form der gesellschaftlichen Führung verkörpert die Frau. In allen Widerständen und Bewegungen gesellschaftlicher Erneuerung war die Rolle der Frau eine führende, und der Erfolg dieser Kämpfe war an die Partizipation und Kraft der Frau gebunden. So wie der Grad der Freiheit einer Gesellschaft an der Freiheit der Frau gemessen wird, so muss jedes Herrschaftsprojekt zuerst die Frau unterwerfen, um die gesellschaftliche moralische Selbstverteidigungskraft zu zerschlagen. Der Widerstand revoltierender SklavInnen, nomadischer und indigener Gemeinschaften stellt eine Form des kulturellen Widerstands dar, dem Werte ursprünglicher kommunaler Selbstführung und die Erinnerung eines würdevollen Lebens zu Grunde liegen. Religiöser Widerstand und die Tradition prophetischer Bewegungen fußt auf der Behauptung moralischer Werte und ethischer Lebensführung, die die Totalität der Herrschaft in Frage stellt. Beide historische Linien, die kommunale und die ideelle Widerstandstradition, waren nicht in der Lage, der Vereinnahmung und Assimilation durch staatliche zentralistische Herrschaft auf Dauer standzuhalten. Die marxistische Philosophie und die sozialistischen Bewegungen versuchten die Frage der revolutionären Führung auf bewusste politische und organisierte Grundlage zu stellen; mit der Idee der kommunistischen Partei als organisierte Initiativkraft und der Diktatur des Proletariats wurde der Gedanke der revolutionären Führung erstmals bewusst als strategische Frage verhandelt.
Die Frage der revolutionären Führung
Das grundlegende Problem aller revolutionären Bewegungen und die Frage ihres nachhaltigen Erfolges drehen sich um die revolutionäre Führung – keine der bisherigen Bewegungen war davor gefeit, dem System ausgeliefert zu werden, da die Frage der revolutionären Führung unbeantwortet blieb. Das Prinzip der revolutionären Führung stellt sowohl Ziel als auch Kampfstrategie einer sozialrevolutionären Bewegung dar, sie entscheidet über die Form der Organisierung, politische Leitlinien und Kampftaktiken. Obwohl in der anarchistischen Philosophie das Ziel einer freien, moralischen, werteorientierten und kommunalistischen Gesellschaft klar formuliert wird, hatten anarchistische Bewegungen in der Praxis Probleme, organisatorische Einheit, Langzeitstrategie und Selbstverteidigung auf Dauer zu behaupten und ihre Kämpfe in nachhaltige gesellschaftliche Erneuerung zu überführen. Die Niederlage der Spanischen Revolution als Folge staatlicher Intervention und Vereinnahmung weist in diese Richtung. Das Problem der Verteidigung und nachhaltigen revolutionären Führung spiegelt sich auch in der Erfahrung der Revolte von 68: Die führenden Persönlichkeiten der Bewegungen sowohl in der Türkei in Person von Mahir Çayan, Ibrahim Kaypakkaya und Deniz Gezmiş als auch in Deutschland in Person Rudi Dutschkes wurden durch Provokation und Attentate eliminiert, was für die Bewegungen den Verlust der Initiative bedeutete. Der fragmentierte Charakter sowohl der deutschen als auch der türkischen Linken ist Ergebnis des Verlusts der eigenen revolutionären Führung. In der Tradition des Marxismus-Leninismus war die Frage der revolutionären Führung an die Aneignung der Zentralmacht und die Übernahme des Staates gebunden. Das Übernehmen der staatlichen Organisierungsform bedeutete objektiv immer, die Gesellschaft weiterhin in statischen Formen gefangen zu halten und sie der ihr eigenen Kraft zur Bewusstwerdung und moralischen Selbstkorrektur zu entfremden – zentrale Herrschaft, ob in Gestalt des bürgerlichen Nationalstaats oder der Diktatur des Proletariats, bedeutet für die Gesellschaft immer, in die Passivität und einen gesetzlichen organisatorischen Rahmen gezwungen zu werden. Als Ergebnis der Staatsbezogenheit verwandelte der Realsozialismus begonnene soziale Revolutionen und Gesellschaften, die sich im antiimperialen Befreiungskampf von Russland bis Vietnam und Nicaragua befanden, in bürokratische Apparate, die die Suche der Gesellschaft nach Artikulierung und umfassender Freiheit einengten und blockierten. Ein einprägsames und negatives Beispiel stellt in dieser Hinsicht die Erfahrung des Prager Frühlings dar, der 1968 als kulturelle und kommunale Bewegung von der Roten Armee niedergeschlagen wurde. Ein weiteres Problem der marxistischen Philosophie besteht in der Vorstellung vom Ziel einer sozialistischen Gesellschaft: Geschichtlicher Fortschritt folgt der Idee einer geradlinigen Vorwärtsbewegung, die notwendigerweise vom Kapitalismus zum Sozialismus führt. Das Geschichtsverständnis des Marxismus, das die Hegelsche Philosophie nicht hat überwinden können, war daher nicht in der Lage, das Spannungsfeld zwischen der zentralistisch-herrschaftlichen Moderne und der Linie der historischen Gesellschaft, die stets als Gegenpol im Widerspruch und Widerstandskampf gegen die zivilisatorische Moderne steht, richtig zu definieren. In gewisser Hinsicht besteht das Unglück der marxistischen Philosophie darin, dass zur Zeit der Entstehung der Arbeiten von Marx und Engels in Anthropologie und Archäologie die Kenntnisse und der Forschungsstand über natürliche Gesellschaften und das Neolithikum als Quellen für Gesellschafts- und Kulturwerdung des Menschen noch nicht fortgeschritten waren. Aus dieser Leerstelle historischer Kenntnisse folgten Mängel im Gesellschaftsverständnis, insbesondere bezüglich des ursprünglichen Charakters der Gesellschaft als kommunalistische Gemeinschaft, die sehr wohl zur Selbstführung auf der Grundlage moralischen kollektiven Gedächtnisses und politischer konföderaler Organisierung ohne staatliche Überstruktur in der Lage ist. Besonders im Hinblick auf die Stellung der Frau als ursprüngliche zentrale Kraftquelle der Gesellschaft, das Verständnis gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit war das Paradigma des Marxismus daher offen für Missverständnisse. Der Kampf um die gesellschaftliche Befreiung und Bewusstwerdung besteht gewissermaßen in der Aushandlung der richtigen Führungsmethode, der Frage der richtigen Lebensführung sowohl in kollektiver Hinsicht als auch in Hinblick auf die persönliche Perspektive der Lebensführung. Eine sozialistische Führungsmethode muss stärker sein als die Führung des Systems, die danach strebt, die Gesellschaft zu assimilieren und zu befrieden. Eine sozialistische Führung muss daher ein richtiges Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit und gleichzeitig eine nachhaltige und bedeutungsgebende Methode des Wahrheitsverständnisses vermitteln. Vor allem muss eine revolutionäre Führungsmethode eine Lebensform darstellen, die Militanten und RevolutionärInnen Prinzipien und Maßstäbe der täglichen Lebensführung vermittelt. In diesem Punkt unterlagen so gut wie alle klassischen linken Bewegungen (mit Ausnahme einiger weniger natürlicher Führungspersönlichkeiten) auf Dauer der Führungs- und Anziehungskraft des Systems. Es ist wichtig zu erkennen, dass eine Form der Lebensführung, die nicht in der Lage ist, ein richtiges Verständnis von Kampf, Gesellschaft, Sozialismus und Wahrheit zu entwickeln, das Problem einer entfremdeten und beherrschten Gesellschaft nicht lösen kann. Eine Lebensführung, die in reiner oppositioneller Haltung verharrt und kein eigenes Paradigma sozialistischer Kollektivität im Leben umsetzen kann, wird objektiv die herrschaftliche und entfremdete Situation verlängern und zur Stützung des Systems beitragen. Viele klassische linke Strömungen und Bewegungen wie feministische und ökologische Bewegungen, die akademische Linke und nicht zuletzt die staatssozialistische Version von Modernität gerieten in die Position, trotz revolutionärer Absichten dem System der kapitalistischen Moderne neue Energie zuzuführen, da sie der Führungsmethode des Systems keine tiefgreifende und ganzheitliche Alternative entgegensetzen konnten. Der Realsozialismus war auf diese Weise dazu verurteilt, die Krise des Systems der kapitalistischen Moderne um gut 150 Jahre zu verlängern.
Kommunale Erfahrung und Versuche alternativen Lebens werden verhindert
Seit der Offensive des Systems der kapitalistischen Moderne, die eigene Hegemonie zu behaupten und auszubauen, und dem Übergang zum Finanzkapitalismus Anfang der siebziger Jahre entwickelte es die Führungsform der Biomacht. Diese Methode stützt sich nicht mehr wie zuvor vor allem auf die Ausbeutung des gesellschaftlichen Mehrwerts durch die industrielle Produktion, sondern zielt darauf ab, alle gesellschaftlichen Lebensbereiche in Quellen der Kapitalakkumulation zu verwandeln. Von der Beeinflussung des gesellschaftlichen Begehrens über Bildung, Gesundheit und Kunst bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen wird das Leben selbst zur Ware und der Logik des Kapitals unterworfen. Die Führung der Biomacht ist am offensichtlichsten als Finanzkommandantur der Allgegenwart des Geldes wahrnehmbar, das den gesellschaftlichen Austausch bis in freundschaftliche und familiäre Beziehungen hinein organisiert. Auf diese Weise wird der Gesellschaft eine individualistische und egoistische, antikommunale Lebensführung aufgezwungen. Das System erschafft eine totalitäre Kultur materieller Werte, die jeden gesellschaftlichen Wert und jede Bedeutung kommunalen Lebens in etwas Abgestorbenes, rein Materielles verwandelt und mit der Kulturlosigkeit grenzenlosen Konsums überzieht. Mit dieser Methode wird die Wahrheit (als Kategorie des Denkens, des Wahrnehmens der Wirklichkeit) in den Grenzen des rein Materiellen, Messbaren und der positivistischen Wissenschaftlichkeit erstickt. Das Leben verliert jede Einzigartigkeit, bar jeden Geheimnisses, ohne Suche, wird zur reinen Verwaltung des Alltäglichen und Banalen.Die Leere, die diese Art der erzwungenen Lebensführung seit den neunziger Jahren in unserem Leben hinterlassen hatte, weckte in uns Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und versetzte uns in Bewegung. Wir suchten nach Antworten und Wegen, wie der richtige Kampf um Befreiung geführt werden könnte, wie ein richtiges Leben geführt wird. Wir waren uns über den abstoßenden Charakter des Systems im Klaren, allein die Ungreifbarkeit der Herrschaft des Liberalismus und dessen ideologische Hegemonie verhinderten, dass wir wirkliche Alternativen hätten denken können. Die Art der liberalen Lebensführung, erzwungener Karrierismus, Opportunismus und Individualismus verhindern kommunale Erfahrung und verdammen alle Versuche alternativen Lebens dazu, in Isolation und Marginalität gedrängt zu werden. Wir suchten durch das Erforschen historischer internationalistischer Kämpfe, revolutionärer Theorie und Lebens- und Kulturformen außerhalb der europäischen Metropole nach Auswegen. Es heißt, im Schatten der Festungen und Kathedralen und unter polizeilicher Kontrolle der Schergen des Systems ist freies Denken schwer möglich, und so verließen wir unsere alte Welt. Jede Suche nach Freiheit, jeder Versuch des tiefen Verstehens führt zurück zur Quelle, und so führte uns unsere Suche bis nach Mesopotamien, dem Ort der ersten großen Revolution der Menschheit, der Quelle von Kulturwerdung, der Revolution von Sprache, Denken und Sesshaftwerdung. Wir lernten, dass in den Bergen, Ebenen und Städten Kurdistans die Tradition des revolutionären Internationalismus fortgesetzt wurde und sich hier der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft mit dem Widerstand der alten, natürlichen Gesellschaft verbunden hatte, in der die Kraft der Frau und die Kultur der Muttergöttin noch wirkte. Vor allem trafen wir im Kampf der PKK und in der Person Abdullah Öcalans auf eine tiefe revolutionäre Führung, die die Grenzen der klassischen linken Bewegungen weit hinter sich ließen und die Möglichkeit wahrer revolutionärer Lebensführung verkörperten.
Die kulturellen Wurzeln sowie der Widerstand sollen gebrochen werden
Die Entstehung der revolutionären Führung in Gestalt der kurdischen Bewegung ist dabei natürlich nicht von der aktuellen Ausformung des Herrschaftsprojektes der kapitalistischen Moderne zu trennen; ebenso wenig ist es Zufall, dass die Suche nach einem Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise Europas nach Mesopotamien (das historische Kernland der neolithischen Revolution zwischen Euphrat und Tigris) führt. Die Entstehung der revolutionären Führung in Kurdistan ist eine Antwort auf den gleichen Angriff des Systems. Die Offensive der kapitalistischen Moderne gegen den Mittleren Osten stellt die letzte und aktuellste Angriffswelle des Systems dar, nachdem es in den vergangenen 400 Jahren seine Führungsgewalt über die Gesellschaften Europas und Nordamerikas durchgesetzt hatte. Das System der kapitalistischen Moderne ist stets gezwungen, die Akkumulation von Kapital zu fördern und dem System neue Quellen zuzuführen. Nach dem Kolonialzeitalter und der kolonialen Unterwerfung von drei Kontinenten seit dem 16. Jahrhundert und dem Industrialismus des 19. Jahrhunderts sind im Zeitalter des Finanzkapitalismus nur die Gesellschaften und Gebiete des Mittleren Ostens geblieben, die nicht vollständig in das System von Produktionsregime und Wertschöpfung integriert sind. Das größte Hindernis für das System, in der Region Fuß zu fassen, stellt die tief verankerte gesellschaftliche Kultur dar, die bis zum Neolithikum und der darauf aufbauenden ideellen Kultur zurückreicht. Die führenden Kräfte der Moderne (vor allem die führenden NATO-Staaten USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich und überstaatlichen Institutionen) sind sich sehr im Klaren darüber, dass die Gesellschaften Kurdistans in höchstem Maße Wurzel und Quelle der alten nichtstaatlichen, werteorientierten Kultur sind. Seit 200 Jahren (beginnend mit dem Ägypten-Feldzug Napoleons und der Herstellung der faktischen Kontrolle über die Politik des Osmanischen Reiches) läuft ein umfassender strategisch geführter Krieg wechselnder Intensität gegen die Gesellschaften der Region, der darauf abzielt, die kulturellen Wurzeln Mesopotamiens zu kappen und ihren Widerstand zu brechen. Im Zentrum dieses strategischen Angriffs steht die kurdische Frage, die ihre heutige Form mit der Aufteilung der kurdischen Gesellschaft und Gebiete nach der Neuordnung der Region nach dem Ersten Weltkrieg erhielt. Die Aufteilung Kurdistans auf vier Nationalstaaten bedeutete den Beginn einer umfassenden Genozidpolitik, der auch die armenischen, aramäischen und assyrischen Gesellschaften der Region zum Opfer fielen. Zwischen 1925 und 1940 wurde der Angriff auf die kurdische Gesellschaft in Form physischer Genozide (endend mit dem Massaker in Dersim) durchgeführt, ab 1940 in Form eines kulturellen Genozidregimes. Die ideelle Kultur Kurdistans und ihre gesellschaftliche Autonomie sollten vollständig vernichtet werden, mit der Traumatisierung durch Genozid und dem Brechen des gesellschaftlichen Willens sollte ihre politische Kraft zur Selbstorganisierung erstickt werden. Ziel des kulturellen Genozidregimes war die Auslöschung der kurdischen Sprache, des kollektiven Gedächtnisses, der kulturellen Mentalität, und es war bis hin zur Zerschlagung der dörflich-bäuerlichen und der nomadischen Viehzuchtkultur geplant, um die gesellschaftliche Identität mit der Wurzel auszureißen. Insbesondere kurdische Frauen wurden in Form von Umerziehung zum Ziel genozidaler Politik, um kulturelle Entfremdung mit der Erziehungsrolle der Mutter beginnen zu lassen. Durch Zwangsmigration in die Städte und demographischen Wandel sollte eine der eigenen Kultur entfremdete arbeitsfähige Menschenmasse in das System der Wertschöpfung integriert werden. Die Struktur der Nationalstaaten der Region und die Verankerung modernistischer Ideologien wie geschürter Nationalismus und religiöser Fundamentalismus (vor allem in Form eines politischen Islams) sollen die kulturelle Genozidpolitik stützen und bis an die Basis der Gesellschaft transportieren. Die AKP-Regierung spielt dabei die Rolle eines neoliberalen politisch-islamischen Frontprojektes des Westens, das die gesellschaftliche Umgestaltung an die Basis der Gesellschaft tragen soll. Wir sehen, dass die kurdische Frage und der kulturelle Genozid selbst Ergebnisse und strategische Bestandteile des Projektes zur Herrschaftssicherung der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten sind. Insbesondere durch neoliberale Regime in der Türkei (AKP) und im Nordirak/Südkurdistan (PDK) soll die Führung des Systems in Form von Biomacht etabliert werden. Genozid und Durchsetzung der Biomacht, das heißt der Integration des gesellschaftlichen Lebens in die kapitalistische Wertschöpfung, sind zwei Gesichter der gleichen Praxis. Biomacht und Genozid bedingen sich gegenseitig.
Der Kern des Sozialismus liegt in der natürlichen Gesellschaft verborgen
Die Entstehung der revolutionären Führung in Kurdistan ist die dialektische Antwort auf das kulturelle Genozidregime. Es stellt einen Angriff dar, der umfassende totale Herrschaft über die Gesellschaft sichern soll. Mit der Herrschaft der kapitalistischen Moderne erreicht die Linie der zentralistischen Zivilisation einen Höhepunkt, der gesellschaftliches Leben außerhalb der eigenen Kontrolle und des eigenen Zugriffs nicht akzeptiert. Entsprechend der Vehemenz des Angriffs verfügt die revolutionäre Führung, die sich dem entgegenstellt, über universelle Werte von Gesellschaftlichkeit, kultureller Selbstbehauptung und Freiheitssuche. Aus der kurdischen Frage und den Widersprüchen, denen die kurdische Gesellschaft in Folge kultureller Zersetzung ausgesetzt war, entwickelten sich Widerstand, Aufbruch und Kampf zuerst in der Person Abdullah Öcalans. In seiner frühen Sozialisierung und gesellschaftlichen Erfahrung spiegeln sich Überreste des Erbes der Muttergöttinnen-Kultur, in der eine starke Grundlage von Moral und Gewissen lebendig ist. Auf Grund der fühlbaren Krise des gesellschaftlichen Lebens in der kurdischen Dorfgesellschaft führt Öcalans Suche jedoch zuerst in Richtung Metropole, um eine Identität und eine richtige Form des Kampfes zu gewinnen. Die Suche nach gesellschaftlicher Freiheit und Selbsterkenntnis führt zum Anschluss an die Tradition des sozialistischen Kampfes, mit der Zeit vollzieht Öcalan die ideologische Synthese aus nationaler Befreiung und Sozialismus. Wir müssen in der Form der revolutionären Führung, die Öcalan entwickelt, klar eine Einheit von eigenständiger nationaler Identität und universeller Freiheits- und Wahrheitssuche in Form des Kampfes für eine freie und gleiche Gesellschaft auf Grundlage des Sozialismus erkennen. Das Beharren auf kulturellen und ursprünglichen gesellschaftlichen Werten und die gleichzeitige Behauptung von Werten des revolutionären Internationalismus stellen dabei keinen Widerspruch dar, sondern bilden zwei Pole, die sich ergänzen. Auf diese Weise verbinden sich in dem Weg und der Erfahrung Öcalans die Jugendrevolte von 1968, die sich auf einen internationalistischen und utopischen Geist stützte, mit der tief verankerten Kultur Mesopotamiens zu einer Synthese, die schnell gesellschaftliches Vertrauen gewinnt. Das Internationale Komplott, das 1999 durch eine koordinierte Aktion von mehr als 30 Geheimdiensten und die Beteiligung aller führenden Weltmächte zur Verhaftung Öcalans führt, richtet sich gegen die tief wirkende Kraft dieser Form revolutionärer Führung, die durch den Prozess des Aufbaus der PKK und deren gesellschaftlichen und bewaffneten Kampf Massencharakter gewinnt. Nach dem Komplott und der Verschleppung auf die Gefängnisinsel Imralı leistet Öcalan in Form der Theoretisierung der Dimensionen des kulturellen Genozidregimes und durch umfassende Vorschläge zur Lösung der kurdischen Frage und des Chaos im Mittleren Osten Widerstand. Seine Konzepte gesellschaftlicher Organisierung als demokratische Nation in Form demokratischer Autonomie zur Überwindung der kapitalistischen Moderne, die den Gipfel der zentralistischen Zivilisation und patriarchalen Herrschaft darstellt, sind eine umfassende Antwort auf das Internationale Komplott. In den Schriften Öcalans ist der Sozialismus nicht mehr wie zuvor das Ergebnis des Fortschritts der Moderne. Der Sozialismus ist selbst eine grundlegende historische Konstante und eine Grundeigenschaft der historischen Gesellschaft. Der Kern des Sozialismus liegt in der natürlichen Gesellschaft verborgen und setzte in der Geschichte seine Existenz als kommunales Leben in Form der moralischen und politischen Gesellschaft fort. Die moralische-politische Gesellschaft war immer internationalistisch, pluralistisch und gleichheitlich. Mit dem Paradigma der demokratischen Moderne in der organisatorischen Form des demokratischen Konföderalismus kann die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusstwerden, ein Bewusstsein von gesellschaftlicher Freiheit und Wahrheit entwickeln und so den demokratischen Sozialismus leben. Die revolutionäre Führung der kurdischen Bewegung definiert den Freiheitskampf als Veränderung und Wiederaneignung historischer Werte, natürlicher Gesellschaftlichkeit und Ganzheitlichkeit auf der Stufe einer dritten Natur, in der das Gleichgewicht von Natur und Gesellschaft wiederhergestellt ist. Der revolutionäre Internationalismus spielt dabei eine strategische Rolle bei der Schaffung sozialistischen Bewusstseins, bei der Organisierung internationaler Bündnisse mit anderen revolutionären Kräften und bei der Verteidigung der Gesellschaften. Anknüpfend an die Tradition des sozialistischen Freiheitskampfes stellt in der Philosophie der revolutionären Führung die Schaffung der militanten Persönlichkeit ein Grundelement und substanzielle Kraft zum Wiederaufbau gesellschaftlichen Lebens dar. Das Militanzverständnis der PKK war von Anfang an darauf gerichtet, die Mängel des Realsozialismus zu überwinden. Die Gesellschaft ihrer ursprünglichen Kraft und Wirklichkeit zuzuführen kann nur durch Militante ermöglicht werden, die in sich beispielhaft ideelle Werte, Gewissenhaftigkeit und politische Initiativkraft verkörpern. Militanz bedeutet dabei, Lösungskraft für gesellschaftliche Probleme zu werden, die dem Einfluss von Macht und Herrschaft auf die Gesellschaft entspringen. Militanz ist eine Form der Lebensführung, die radikal ideelle Werte von Solidarität, Verbundenheit und Verantwortung lebt. Das Militanzverständnis der PKK ist dabei vor allem an die historische Linie von Prophetie, Heiligen und Derwischen angelehnt und aktualisiert deren Art und Weise asketischen Lebens in revolutionärer Form. Kraft des Bewusstseins, Mühe, innerer Kampf und Hingabe für die Gesellschaft, Freiheit und Wahrheitssuche stellen grundlegende Eigenschaften dar. Vor allem bedeutet militantes Leben, in sich selbst die gesellschaftlichen Widersprüche von Klasse, Nationalität und Geschlecht zu reflektieren und durch Auseinandersetzung zu überwinden. Vornehmlich der Geschlechterkampf als Schaffung freien partnerschaftlichen Lebens und nichtsexualisierter wahrer Freundschaft spielt eine zentrale Rolle bei der Befreiung der Persönlichkeit von der Vereinnahmung durch das System. Die revolutionäre Führung verkörpert dabei eine Einheit von Ideologie (das heißt gelebtem Bewusstsein) und Lebensstil, die sich der Form der Biomacht-Herrschaft und der Unterwerfung entgegenstellt. Militante Persönlichkeit bedeutet das eigene Begehren als platonische und universelle Liebe zu vergesellschaften und so eine Haltung von Gewissenhaftigkeit, Glauben, Positivität und Lösungskraft zu verkörpern; vor allem bedeutet Militanz, entsprechend der Notwendigkeit der Situation und Verantwortung zu agieren. Der sozialistische Kampf muss zuallererst innerhalb der eigenen Persönlichkeit zum Sieg geführt werden, allerdings nicht individualisiert, sondern in Form der revolutionären Organisierung, in der freundschaftlichen Verbindung und dem kollektiven Bündnis gegen die genozidalen Regime der kapitalistischen Moderne. Militanz bedeutet auf diese Weise die Umsetzung der Revolution von Bewusstsein und Gewissen in der eigenen Person. Der Aufbau der Persönlichkeit und die Umsetzung militanter Werte ist sicherlich ein Lernprozess, der kein Ende kennt und nur durch gemeinsames Aushandeln, Scheitern und Überwinden der eigenen Grenzen und Hindernisse vorangehen kann. So kann die Einzelne zum Bewusstsein der eigenen Kraft gelangen und Verantwortung übernehmen lernen. Militante als der revolutionären Führung Folgende haben die Aufgabe, der Gesellschaft zu Bewusstsein, eigenständiger politischer Organisierung außerhalb des staatlichen Zugriffs und zur Selbstverteidigungskraft zu verhelfen und so das Fundament der sozialen Revolution zu bereiten. Der Aufbau einer militanten Persönlichkeit ist dabei an die Schaffung der revolutionären Partei gebunden – in Kurdistan, dem Mittleren Osten, spielt diese Rolle die PKK, die das Prinzip der revolutionären Führung in Form der Guerilla und Militanten umsetzt.
Internationalistische Praxis
Der Aufbau revolutionärer Führung als Modell militanten und ideellen Lebens ist heute von grundlegender Notwendigkeit für Gesellschaften, die unter dem Einfluss des Systems ihrer Gesellschaftlichkeit entfremdet sind. Das Phänomen der revolutionären Führung, der Revolution von Kurdistan und die Frage der Weltrevolution bilden in unserer Zeit eine dialektische Einheit. Die führende Rolle in revolutionärer Theorie und Praxis auf globaler Ebene ist in unserer Zeit auf Kurdistan übergegangen. Es wurde zum Zentrum dieses Kampfes, zum aktuellen letzten Glied einer Kette von 150 Jahren sozialistischer Versuche und Befreiungsversuche. Wie die Windungen eines Flusses sind die Erfahrungen aus 150 Jahren revolutionären Geistes vom ersten Hungerstreik Arbeitender in den USA, der ersten Internationale in Europa über die Chinesische Revolution, Vietnam, die Jugendrevolte von 68, die Revolutionen Lateinamerikas, die Erfahrung der Stadtguerilla bis zum Widerstand von Kobanê und der Guerilla der kurdischen Berge miteinander verbunden. Seit dem Aufstand der Zapatistas und der Solidarität mit Kobanê sind diese Einheit und das globale Potential in Form einer Internationale der Hoffnung fühlbar geworden. Obwohl internationale Anschlüsse an die Revolution von Kurdistan noch von geringer Zahl sind, sind die Isolation und Umzingelung, in denen das System die Kultur und den Widerstand der Gesellschaften Mesopotamiens ersticken will, in ideeller Hinsicht gebrochen. Der Geist der revolutionären Führung sowohl in Person Abdullah Öcalans als auch in Form des Kampfes der PKK auf der Grundlage des Erbes der Gefallenen der Revolution wurden zum Symbol des Kampfes um universelle Befreiung. Das Interesse und der Wille, die Kraft dieser revolutionären Führung verstehen zu wollen, ist weltweit fühlbar geworden. Die Vermittlung und Verbindung dieser Linien des Kampfes und des Potentials der Revolution Kurdistans, sich mit fortschrittlichen Kräften weltweit zu verbinden, stellt eine Aufgabe der Zeit dar und bedeutet, sich zum Erbe aller Revolutionen zu bekennen. Was bedeutet dies für eine zeitgemäße internationalistische Praxis? Im Hinblick auf die oben formulierten Gedanken können wir einige Punkte anführen, wie sich die Tradition des revolutionären Internationalismus mit der Linie der revolutionären Führung, die der Weg Abdullah Öcalans und der Kampf der PKK hervorgebracht haben, verbinden lässt.a) Eine grundlegende Aufgabe besteht in der Verbreitung und Diskussion der Schriften und Gedanken Öcalans. Die Auseinandersetzung mit dem Denken, das die größte und am weitesten fortgeschrittene Kraft gegen die kapitalistische Moderne hervorgebracht hat, stellt eine notwendige Anstrengung dar, um den Austausch und die Diskussion zwischen fortschrittlichen Kräften und kämpferischen Gesellschaften über unsere aktuelle Situation, revolutionäres Erbe, das Potential und die Gefahr des Augenblicks der Geschichte, in dem wir uns befinden, voranzubringen. Es gilt eine Wahrnehmung dieses Moments der Freiheit zu gewinnen, in dem wir uns dafür entscheiden können, selber zur bewussten Kraft in diesem laufenden Krieg zu werden. Durch internationale Verbreitung der Erfahrungen in Kurdistan und weltweit über Medien und Netzwerke können wir eine Wachsamkeit und gegenseitiges Bekenntnis schaffen, auf dem ein neues internationalistisches Bündnis aufgebaut werden kann.b) In organisatorischer Hinsicht ist es wichtig, dass die Schaffung revolutionärer Initiativkraft und Militanz keine Grenzen anerkennt, die uns das System aufzwingen will. Wenn wir zu einer Kraft werden wollen, die in der Lage ist, auf die Angriffe eines globalen Herrschaftssystems reagieren zu können, brauchen wir starke Verbindungen mit Verbündeten und eine tiefe internationale Organisierung. Wovon wir heute im Hinblick auf das Chaos des Mittleren Ostens und die gesellschaftliche Krise des Westens wieder sprechen müssen, ist die Schaffung einer neuen Internationale. Insbesondere in den Zentren der westlichen Metropole ist eine internationalistische Wahrnehmung des Kampfes für ein würdevolles Leben wichtig. Durch Selbstbildung, organisatorische Verbindung und diplomatische Verteidigung der Kämpfe in Kurdistan und anderswo kann eine breite Basis einer neuen sozialistischen Kraft entstehen. Was die führenden Kräfte des Systems am allermeisten fürchten, ist die Ausbreitung widerständischer Brennpunkte im Geiste der PKK, die sich aufeinander beziehen, zu einer selbstbewussten gesellschaftlichen Kraft werden und auf andere Länder übergreifen. Wie 1976 in Nordkurdistan bestehen heute die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Verbreitung des revolutionären Kampfes aus den Gebieten der kurdischen Revolution in die Länder des Mittleren Ostens und die westliche Metropole.c) Insbesondere in der militärischen Praxis ist internationale Beteiligung an der Verteidigung der Revolution von Kurdistan und der Renaissance des Mittleren Ostens von großer Bedeutung. Die Vorstellung von den und die Erinnerung an die Internationalen Brigaden ist in den freiheitlichen Kräften Europas noch lebendig. Der Aufbau einer internationalen militärischen Kraft bedeutet heute die Fortsetzung dieser Traditionslinie. Eine Teilnahme in den Reihen der Verteidigungskräfte Kurdistans entspricht auch einer Aufgabe und Verantwortung der Jugend Europas und des Westens. Ohne die Revolution im Mittleren Osten wird eine Revolution in den Ländern der westlichen Metropole in unserer Zeit nicht möglich sein. Die internationalen Anschlüsse an die YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten) in Rojava waren ein guter Anfang, fanden aber zumeist spät statt und blieben in ihrer Anzahl begrenzt – eine grundlegende Schwäche bei der richtigen Vermittlung und Bewertung der Situation offenbarte sich auf Seiten vieler mit der kurdischen Revolution Verbundenen. In den letzten Jahren wurden langsam Erfahrungen gesammelt, wie die militärische Organisierung von InternationalistInnen Gestalt annehmen kann. Für die Verteidigung der Revolution von Rojava und der Demokratischen Föderation Nordsyrien gaben viele InternationalistInnen ihr Leben – die Fortsetzung ihres Kampfes ist unsere Verantwortung, die von ihnen geschaffene Werte zu verteidigen. Insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Revolution im Iran und in Ostkurdistan ist Wachsamkeit geboten, um zur rechten Zeit der historischen Situation gerecht zu werden und dem ältesten Staat der Welt die Utopie einer freien Gesellschaft entgegenzustellen. In der Mythologie der sozialistischen Bewegungen existiert die Vorstellung eines letzten Krieges, der alle Kriege beenden soll. Dieser Krieg läuft in Form eines globalen Krieges, dessen Zentrum heute der Mittlere Osten und Kurdistan bilden. Der Weg der revolutionären Führung bezeichnet den Lösungsweg für diesen Krieg und das Erkämpfen einer freien Gesellschaft. In diesem Sinne stellt die Erfahrung der revolutionären Führung heute zweifellos ein Erbe der Menschheit dar. Wenn wir richtig verstehen, unsere Suche und die Art und Weise, unser Leben zu führen, mit der revolutionären Führung zu verbinden, werden wir in der Lage sein, entsprechend intensiv zu leben und auf der Spur des revolutionären Internationalismus den ersten Schritt zu tun, um diesen Krieg in den Kampf um unsere Befreiung zu überführen. Dazu bedarf es des Mutes, der Hoffnung, um auf dem Weg der militanten Lebensführung durch Anstrengung und die Kraft eines tiefen Bewusstseins jede Grenze zu überwinden und auf einer anderen Welt zu beharren.