
Von der Hauptstadt des IS zur Demokratischen Nation
Als ich 2022 das erste mal mit FreundInnen von der Internationalistischen Kommune in Rojava Raqqa besucht habe, waren die Folgen des Kampfes gegen den Islamischen Staat nach wie vor überall präsent: eingestürzte Häuser zwischen den geöffneten Ladenzeilen in der Innenstadt und Einschusslöcher in den Wänden vieler Gebäude. Doch die Stadt strahlte auch etwas anderes aus: Aufbau und Zukunft. Überall wurde gebaut, eingestürzte Gebäude geräumt und die Straßen waren lebhaft und geschäftig. Trotz den unübersehbaren Spuren des Krieges war es schwer vorzustellen, dass die Stadt nach der Befreiung vom Islamischen Staat fast vollständig zerstört war.
Der Islamische Staat hatte die Stadt 2014 kampflos von verbündeten islamistischen Gruppen, allen voran der Al-Nusra Front übernommen. In heutigem Zusammenhang betrachtet, war es allem voran der Gründer der Al-Nusra Front Al-Jolani (oder Al-Sharaa), der mit der Unterstützung der Al-Qaeda, den Einmarsch des Islamischen Staates ermöglichte. Heute ist Al-Jolani selbsternannter Übergangspräsident Syriens.
Während eines Gespräches beim Abendessen in einem der Hochhäuser in Raqqas Zentrum, umgeben von arabischen und kurdischen Revolutionären, erzählt mir damals Aziz im schummrigen Licht einer Taschenlampe wie er am morgen des 13. Januars 2014 in seinem Elternhaus aufgewacht ist und plötzlich die schwarze Fahne des IS über der Stadt wehte. Für ihn und viele andere realisierte sich ein Alptraum, der von Verboten, Festnahmen, Folter und Ermordungen bis hin zu Vergewaltigung und Versklavung von Frauen jede Brutalität umfasste.
Nach der Einnahme der Stadt hat der Islamische Staat die shiitischen Moscheen der Stadt zerstört. Viele der christlichen Kirchen der Stadt wurden ebenfalls zerstört, die armenische katholische Kirche wurde gar in ein islamistisches Rekrutierungszentrum verwandelt. Vor dem syrischen Bürgerkrieg machten Christen noch knapp 10% der Bevölkerung der Stadt aus.
Die Bevölkerung war nun der Brutalität des IS ausgeliefert: öffentliche Hinrichtungen, Erpressung und Zwangsrekrutierungen waren an der Tagesordnung. Raqqa wurde zur Hauptstadt des Kalifats des IS. Viele der Anschläge unter anderem in Paris und Nizza, in Brüssel und in Manchester wurden von hier aus finanziert, geplant und organisiert.
Aziz musste untertauchen, und ist nur durch Zufall entkommen. Nach der Nacht in der ihn Kontakte der SDF aus der Stadt geschmuggelt hatten, stand ein Kommando des Geheimdienstes des IS vor der Tür seines Elternhauses, um ihn festzunehmen. Bis heute hat sich Aziz dem Kampf für einen freien und demokratischen Mittleren Osten verschrieben und kämpft Seite an Seite mit kurdischen GenossInnen in Nord- und Ost Syrien. Nicht ohne Stolz erzählte er uns wie wichtig es für ihn ist die alten Gräben zwischen Arabern und Kurden zu überwinden, die durch Nationalismus und eine aggressive Arabisierungs- und Anti-Kurdische Politik des Baath-Regimes entstanden waren.
Am 6. Juni 2017 begann die Operation zur Befreiung Raqqas. Eine multi-ethnische Armee, unter der Führung der SDF, unter Beteiligung vieler junger Menschen aus Raqqa und der umliegenden Region befreite die Stadt nach monatelangen Kämpfen, die Militärexperten später als die intensivsten Städtekämpfe seit dem 2. Weltkrieg bezeichneten.
Bis zur Befreiung Raqqas am 20. Oktober 2017 sind hunderte der wertvollsten Töchter und Söhne der Region, AraberInnen, KurdInnen, ArmenierInnen Seite an Seite zu Märtyrern geworden. Es ist auch ihr Opfer, dass den Grundstein für ein Zusammenleben als das, was Rêber APO die Demokratische Nation nennt, ermöglicht hat:
„Während der Nationalstaat auf der Schaffung einer einheitlichen, homogenen Gesellschaft basiert, gründet die demokratische Nation auf der Natur einer multikulturellen, heterogenen Gesellschaft mit vielfältigen Identitäten. Während der Nationalstaat auf widersprüchlichen Identitäten basiert, indem er sie zu Machtinstrumenten macht, gründet die demokratische Nation auf der demokratischen Beziehung und Solidarität verschiedener Identitäten und Kulturen. Sie befreit Identitäten davon, Machtinstrumente zu sein. Kurz gesagt: Während der Nationalstaat machtorientiert ist, basiert die demokratische Nation auf der Solidarität und Selbstverwaltung von Gemeinschaften.“
Abdullah Öcalan (Manifest für Frieden und eine Demokratische Gesellschaft, 2025)
Es war auch Rêber Apo, der den Kurdischen Kräften innerhalb der SDF dazu riet Raqqa zu befreien. Trotz der vorrauszusehenden Opfer war er überzeugt, dass die Geschwisterlichkeit der AraberInnen und KurdInnen essentiell für einen Aufbruch im Mittleren Osten ist, und dass dementsprechend auch die Verantwortung besteht, die mehrheitlich arabischen Gebiete von der Besatzung des Islamischen Staates zu befreien.
Heute, 8 Jahre später, sind hunderttausende nach Raqqa zurückgekehrt und viele der Institutionen der Demokratischen Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ost Syriens haben ihren Hauptsitz in der Stadt. Während Schulen, Krankenhäuser, das Stadion, Museum, Moscheen und Parks bereits in den ersten Tagen nach der Befreiung wiedereröffnet wurden, sind in den letzten Jahren die ersten Kirchen wieder errichtet worden und Akademien der Demokratischen Zivilgesellschaft, Jugendzentren der Revolutionären Jugendbewegung, wie viele andere Projekte in die Tat umgesetzt worden. Die Organisation Zenobia, gegründet in 2016, organisiert die Frauen der Region, um ihnen Sicherheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und hat in Raqqa zahlreiche Frauenkooperativen, darunter eine Großbäckerei und eine Reinigungsmittel Fabrik die wiederum viele Projekte für Frauen finanziert, aufgebaut. Während der IS Frauen fast gänzlich aus dem öffentlichen Leben verdrängt hat, übernehmen Frauen heute in allen Institutionen wichtige Aufgaben und spielen eine führende Rolle in der demokratischen Selbstverwaltung.
Natürlich sind nicht alle Gräben überwunden worden, und insbesondere in der Frage der Frauenbefreiung stehen vor allem Männer und Stammesälteste einiger arabischer Stämme der Revolution immernoch skeptisch gegenüber. Eins ist jedoch klar, für die arabischen Frauen hat sich eine klare Perspektive für ein freies Leben mit einem starken Willen entwickelt. Nun sind sie ein selbstverständlicher und grundlegender Teil der Revolution geworden. Sie übernehmen Verantwortung in den Institutionen der Selbstverwaltung, Kämpfen in den Reihen der SDF und sind ein Symbol für die Zukunft der Frauen in ganz Syrien.
Dass die Geschwisterlichkeit zwischen KurdInnen und AraberInnen essenziell für die Zukunft der Region ist, unterstreicht auch der Brief den Rêber Apo von der Gefängnisinsel Imrali kürzlich direkt an die Arabischen Stämme der Region gerichtet hat und zu kurdisch-arabischer Einheit aufruft:
“Die Freundschaft zwischen unseren Völkern hat Jahrhunderte überdauert. Heute, mit eurer Führungsrolle, erhält sie eine neue politische und gesellschaftliche Bedeutung”. Rêber Apo unterstreicht worauf diese Beziehung heute fußen soll und wie wichtig die Beteiligung der AraberInnen an der Verteidigung der Region ist: “Alle Menschen sollten gleich und frei sein, zusammenleben und sich selbst regieren. Gleichheit und Gerechtigkeit müssen auf dieser Grundlage aufgebaut werden. Kurden und Araber sollten zusammenleben. Dies hängt auch von eurer Unterstützung für die SDF ab. Eure Unterstützung für die SDF ist von großer Bedeutung und Tragweite.” Denn heute sind mindestens die Hälfte der SDF KämpferInnen arabischstämmig, die überwiegend arabischen Regionen Raqqa, Deir Ez-Zor und Tabqa sind Teil der Selbstverwaltung und vor allem Frauen in diesen Regionen zu Pionieren der Demokratische Nation geworden. Auch wenn schlafende Zellen des Islamischen Staates nach wie vor ein Sicherheitsrisiko darstellen und Medienkampagnen der Türkei und anderen die Bünde zwischen Arabern und Kurden zum Ziel haben, saßen wir auch vor ein paar Wochen wieder mit revolutionären Jugendlichen, Arabern, Turkmenen, Kurden, Basken, Portugiesen und Deutschen zusammen beim Abendessen und diskutierten wie sehr die Demokratische Nation in Nord- und Ostsyrien bereits reale Tatsache geworden ist.
Heute besuchte ich die Demonstration der Jungen Frauen Bewegung in Raqqa. Kurdische und Arabische Frauen, einige in Militärkleidung, einige in Burkas vermummt, demonstrierten zusammen. So unterschiedlich das Aussehen doch war, wurde in den gemeinsamen Rufen der jungen Frauen deutlich: Alle dieser Frauen ziehen ihre Kraft von Rêber Apo, und organisieren sich nach seiner Philosophie „Jin Jiyan Azadî – Frauen Leben Freiheit“. Dieses Bild ist das Ergebnis eines schwerwiegenden Kampfes.
Am Jahrestag der Befreiung Raqqas, verneigen wir uns vor denen, die in der Befreiung der Stadt ihr Leben gelassen haben und blicken ehrfürchtig auf die Errungenschaften der Revolution. Seite an Seite haben vor allem Jugendliche der Region die Gräben zwischen AraberInnen und KurdInnen überwunden und damit das Schicksal der gesamten Region verändert. Heute ist Raqqa befreit, bis zur Befreiung des Mittleren Osten ist es noch ein langer, unberechenbarer Weg. Jedoch sind in den letzten Jahren unbestreitbar wichtige Schritte gemacht worden. Rêber Apos Vision der Demokratischen Nation ist in Nord- und Ost Syrien zu einer Realität geworden und zeigt den Weg zu einem demokratischen Mittleren Osten.
InternationalistInnen die bei der Befreiung von Raqqa und bei Kämpfen rund um Raqqa gefallen sind:
Ryan Lock (Berxwedan Givara)
Nazzareno Tassone (Agîr Ararat)
Muzaffer Kandemir (Doğan Kırefe)
Paolo Todd (Kawa Amed)
Albert Avery Harrington (Çekdar Rojava/Neshro Hiro)
Ulaş Bayraktaroğlu (Mehmet Kurnaz)
Ayşe Deniz Karacagil (Destan Temmuz)
Hasan Ali
Robert Grodt (Demhat Goldman)
Luke Rutter (Soro Zinar)
Nicholas Warden (Rodi Deysie)
David Taylor (Zafer Qereçox)
Fermun Çırak (Nubar Ozanyan/Orhan Bakırcıyan)
Gökhan Taşyakan (Ulaş Adalı)
Frédéric Henri Georges Demonchaux (Gabar Légionnaire)
Mehmet Aksoy (Firaz Dag)
Jack Holmes (Şoreş Amanos)
Oliver Hall (Canşêr Zagros)