Zuerst veröffentlicht im Kurdistan Report.
Pilar Villanueva, feministische Aktivistin und Chefredakteurin des Zanganos-Magazins
Seit vielen Jahren sind die Kurd*innen die Vorkämpfer der Revolution in Westkurdistan (Rojava). Ihr zum Kapitalismus alternatives System wurde auf der ganzen Welt bekannt. Ihre Gesellschaft organisiert sich nach der Idee des »Demokratischen Konföderalismus«, einer Art politischer Organisierung, die Basisdemokratie, soziale Ökologie und Feminismus vereint.
In Lateinamerika haben die Ideen aus Rojava in Wallmapu, dem Gebiet der Mapuche, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe Chiles und Argentiniens, Wurzeln geschlagen. Die Mapuche haben für Jahrzehnte gegen Unterdrückung, Umsiedlung und Enteignung ihres Gebietes und ihrer Ländereien gekämpft.
Inspiriert durch den Kampf der Kurd*innen und insbesondere durch den Widerstand der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung, haben die Mapuche angefangen, mit vielen chilenischen Gruppen zusammenzuarbeiten, u. a. dem Comite de Solidaridad con Kurdistán, Región Chilena y Wallmapu (Solidaritätskomitee für Kurdistan, Region Chile und Wallmapu).
Frauenverteidigungseinheiten in Rojava/Nordsyrien
Dieses Komitee dient als Kommunikationsplattform und verbreitet Informationen über den kurdischen Widerstand, um dessen Organisationsmodell nach Chile und in die Gebiete der Mapuche zu bringen. Zeitgleich wird in Argentinien, das das Recht der Mapuche auf Selbstbestimmung nicht anerkennt, durch Linke und Feminist*innen, die nach Kurdistan gereist sind und über ihre Erfahrungen in Büchern berichtet haben, das alternative politische System in den lokalen Regionen bereits aufgebaut.
Rojava ist das Gebiet der Kurd*innen in Nordsyrien, wo Menschen die vielleicht wichtigste Revolution unserer Zeit entwickeln. Mitten in militärischen Angriffen der Türkei, Syriens und des Islamischen Staates kämpfen kurdische Männer und Frauen gemeinsam für ihre Freiheit und die Freiheit ihrer Mitmenschen.
Die indigene Bevölkerung aus den Bergen im Norden des Mittleren Ostens – die Kurd*innen – ist zurzeit Teil eines bewaffneten Kampfes, um Teile ihres besetzten Gebiets zu verteidigen: Kobanê, Cizîrê und Efrîn. Letzteres Gebiet wurde vor Kurzem vom türkischen Militär eingenommen und die Kurd*innen versuchen nun, es sich zurückzuerobern.
Mitten in diesem Widerstand versuchen die Kurd*innen ein neues politisches, soziales und wirtschaftliches System namens »Demokratischer Konföderalismus« zu errichten, das auf der Befreiung der Frauen basiert und auf der Etablierung von Basisdemokratie.
Dies ist ein Projekt der radikalen Demokratisierung der Bevölkerung. Der ideologische Anführer Abdullah Öcalan beschreibt es in seinem Buch »Demokratischer Konföderalismus« als »politische Selbstbestimmung, in der alle Bevölkerungsgruppen und alle kulturellen Identitäten in lokalen Treffen, Räten und Generalversammlungen repräsentiert sind. Diese Art von Demokratie eröffnet politische Möglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten und ermöglicht diversen politischen Gruppen sich selbst zu vertreten.«
Genauso wie den Kurd*innen ihr Existenzrecht verweigert wurde und sie in die nationalen Grenzen der Türkei, des Irans, des Iraks und Syriens gezwungen wurden, so wurde das Gebiet der Mapuche von Chile und Argentinien kolonialisiert. Heute sind nur 5 % des ursprünglichen Siedlungsgebiets der Mapuche in Chile offiziell anerkannt. Der Großteil Wallmapus ist unter Kontrolle reicher Familien, des Staates oder von Unternehmen, die die natürlichen Ressourcen der Region ausbeuten.
Die derzeitige Ignoranz des Rechts der Mapuche auf Selbstbestimmung ist nicht neu. Seit der spanischen Kolonialisierung haben die Mapuche unzählige Male Zwangsmigration und Umsiedlung durch unterdrückende und ungerechte Akte der chilenischen Regierung erlebt. Ähnlich wie die Kurd*innen in der Türkei haben die Mapuche die gewaltsame Enteignung ihres Landes durch die nationalen Polizeikräfte und das Militär miterlebt. Hierbei wurden Mapuche-Kinder erschossen, ermordet wie kurdische Kinder in der Türkei.
Die kurdische Revolution blüht auch in LateinamerikaDie Mapuche konnten die Situation in Sûr, Cizîr (Cizre) und anderen kurdischen Regionen 2015 in der Südosttürkei, als dort militärische Ausgangssperren errichtet wurden, gut nachempfinden. Araucanía, die Region, in der der Großteil der Mapuche lebt, hat auch eine der stärksten Militärpräsenzen.
Diese indigene Gruppe kämpft zurzeit für ihre Rechte und ihre Gebiete, doch noch keine Regierung hat ihre Autonomie bisher anerkannt. Unter Augusto Pinochet, der von 1973 bis 1990 regierte, wurden die oppositionellen Mapuche gefoltert, des Landes verwiesen oder entführt. Die Mapuche-Region erlebt nun unter der rechten Präsidentschaft von Piñera eine Remilitarisierung.
Die Kämpfe der Mapuche und der Kurd*innen sind, auch wenn sie in zwei ganz unterschiedlichen Regionen der Welt stattfinden, mehr miteinander verbunden, als zu erwarten wäre. Es handelt sich bei beiden Gruppen um eine indigene Bevölkerung, die ihr Recht auf Selbstbestimmung fordert, für ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet kämpft und ihre eigenen Ressourcen in der Gegenwart von Staatsgewalt kontrolliert. Im Ergebnis sind sie auch die Leidtragenden des »Krieges gegen den Terrorismus« durch die USA.
Für den türkischen Staat und andere Länder, die den türkischen Präsidenten Erdoğan unterstützen, ist die kurdische Bewegung eine terroristische Organisation, da sie dem Staat mit Waffengewalt begegnet, auch wenn ihre Waffengewalt eine Antwort auf die ständige staatliche Gewalt gegen Kurd*innen darstellt.
Tatsächlich werden nur die Kurd*innen vom türkischen Staat unterstützt, die ihre eigene Identität leugnen: diejenigen, die sich gegen die Freiheitsbewegung stellen und Erdoğan unterstützen. In der Türkei reicht es schon, sich in sozialen Medien kritisch über den türkischen Einmarsch in die durch Kurd*innen regierte Region Nordsyriens zu äußern, um als Terrorist*in angeklagt zu werden. Wer Erdoğan unterstützt, gilt hingegen nicht als Terrorist*in.
Die Situation ist ähnlich dem, was die Mapuche in Südamerika erfahren. Seit der Kolonialisierung sind die Mapuche in mindestens drei Gruppen gespalten worden: 1. diejenigen, die bereit waren, ihr Erbe hinter sich zu lassen, wenn es bedeutet, andauernde Diskriminierung und Rassismus zu umgehen; 2. diejenigen, die apathisch sind; 3. diejenigen, die weiterhin ihre Sprache sprechen (auch den Mapuche wurde es, wie den Kurd*innen in der Türkei, verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen) und/oder aktiv in politischen und sozialen Organisationen sind, um ihre Länder und ihre Unabhängigkeit zurückzuerlangen.
Es ist die letztere Gruppe, die genau wie ihr kurdisches Pendant die Aufmerksamkeit des Staates erregt hat. Die Existenz der Menschen, die für die Mapuche-Identität einstehen, hat die Militarisierung nicht nur der Gebiete provoziert, in denen mehr Mapuche leben, sondern auch derjenigen, in denen die Menschen politisch aktiver sind. Um sie zu kriminalisieren, wurde ein spezielles Gesetz entwickelt: das Anti-Terror-Gesetz, das zunächst unter der Diktatur Pinochets entworfen wurde, um oppositionelle Aktivist*innen zu inhaftieren, zu foltern oder anzuklagen. Nach dem Ende der Diktatur wurde das Gesetzt benutzt, um politisch aktive Mapuche zu inhaftieren oder sogar zum Tode zu verurteilen.
Vor nicht so langer Zeit gab es den Fall der Machi Francisca Linconao: einer Heilerin, Autoritätsfigur und Älteren der Mapuche. Sie wurde – nachdem das reiche Ehepaar Lucksinger-Mackay in einem Feuer gestorben war – angeklagt. Dieses Paar hatte inmitten einer größtenteils von Mapuche bewohnten Region gelebt. Ihm und ihren Familien gehören viele Unternehmen und sie sind in ganz Chile als eine der wohlhabendsten Familien bekannt.
Nachdem zwei Beamte falsche Beweise in dem Haus von Francisca Linconao versteckt hatten, um die Spur auf sie zu lenken, wurde sie inhaftiert. Sie wurde, wie viele glauben, für das bestraft, wofür sie am meisten bekannt war: das Gebiet der Mapuche zu verteidigen. Nach einem Hungerstreik und landesweiten Solidaritätsbekundungen wurde sie freigelassen und der Staat hat schließlich anerkannt, dass die »Beweise«, die sie schuldig machten, gefälscht waren.
Mapuche und chilenische Aktivist*innen bildeten das Kurdistan-Solidaritätskomitee, um kollektiv eine derartige Kriminalisierung politischer Bewegungen in Kurdistan und Chile zu verhindern.
Lua Montiel, ein Mitglied des Komitees, erzählte Toward Freedom, dass sie arbeiteten, um »das politische Projekt der Kurd*innen und der Frauenfreiheitsbewegung sowie deren Grundlagen zu verbreiten«. Einige der Aktivitäten, die die Gruppe organisierte, seien natürlich Selbstschulungen der Komiteemitglieder und öffentliche Workshops zum Demokratischen Konföderalismus.
Frauen organisieren Treffen, um über Jineolojî zu reden, »die Bildung eines Frauenparadigmas«. Jineolojî ist ein Konzept, das aus dem Freiheitskampf der kurdischen Frauen entstanden ist und versucht, nach Montiel, »Frauen und der Gesellschaft Zugang zu Wissenschaft und Wissen« zu geben und ihre Verknüpfung zu stärken.
Das Konzept der Jineolojî ist gerade für Frauen in Chile, Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern interessant, da es, wie Montiel erklärt, »uns dabei hilft, westlichen und kolonialen Feminismus zu überwinden und eine neue Erfahrung von Frauenkämpfen kennen zu lernen, die die Kriegssituation mehr berücksichtigt«.
In Argentinien gibt es mehrere Leute, die die kurdische Freiheitsbewegung unterstützen und kooperativ mit anderen Komitees zusammenarbeiten, um die Ideen der Bewegung zu verbreiten und sie nach Lateinamerika zu bringen. Zum Beispiel hat ein Komitee das Buch Mujeres de Kurdistán, La Revolución de las Hijas del Sol (Frauen aus Kurdistan. Die Revolution der Töchter der Sonne) geschrieben, und es wurde von den argentinischen Autoren Rom Vaquero Díaz und Leandro Albani vorgestellt.
Menschen in Lateinamerika wollen nicht nur aus den Erfahrungen in Kurdistan lernen, sondern diese Art der Organisierung nach Chile bringen, so wie die Mapuche durch Workshops, Veröffentlichungen und neue Organisationsstrategien.
Wie Nahuel Valenzuela, ein Mitglied des chilenischen Mapuche-Komitees, dem Toward Freedom berichtete, wurde die Gruppe als »breites linkes Bündnis verstanden, das versuchte, Individuen und Kollektive aus diversen Kontexten, insbesondere aus anarchistischen, revolutionären und sozialistischen Kreisen, zusammenzubringen«.
Der Samen der kurdischen Revolution wurde bereits in Lateinamerika gesät und schlägt Wurzeln in Aktivist*innen, die begierig sind zusammenzuarbeiten. Wie die Zapatistas hat der kurdische Kampf zur Gründung neuer Gruppen, Komitees und Organisationen geführt und viele Menschen mit ähnlichen Ideen zusammengebracht, die alle Teil eines gemeinsamen Kampfes werden: des Kampfes um unsere wahre Freiheit.