Liebe Freund:innen,
vor ein paar Wochen bin ich hier in der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien angekommen. Die Eindrücke, die ich allein in dieser kurzen Zeit sammeln konnte haben mich sehr beeindruckt, weshalb ich sie gern mit euch in diesem Brief teilen möchte.
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Bevor ich die Entscheidung getroffen habe hier her zu kommen habe ich mich schon länger mit der Revolution hier beschäftigt gehabt. Doch was ich am meisten in der ersten Woche hier gelernt habe ist, egal wie viel man darüber ließt wie ein alternatives Gesellschaftssystem aussehen könnte, was Revolution bedeutet, was ein Leben außerhalb des staatlichen Systems bedeutet, … , das Ausmaß begreift man es erst wenn man es in all den kleinen Details erlebt. Zumindest meine Vorstellungskraft hat dafür nicht ausgereicht. Die Realität hier unterscheidet sich zu sehr von der meines bisherigen Lebens in Europa. Ich probiere aber trotzdem mit euch in diesem Brief meine Eindrücke so gut ich kann zu teilen. Und möchte eben auch diese kleinen Nebensächlichkeiten, die für mich den Umfang der Revolution langsam immer klarer werden lassen mit euch teilen.
Als ich her kam hatte ich in den Nachrichten schon davon gelesen, dass eine Mahnwache am Tişrîn Staudamm stattfindet. Doch um ehrlich zu sein verstand ich noch nicht, warum die Menschen es taten. Seit Beginn an wurden sie dort mit Drohnen und Kampfflugzeugen des türkischen Staates terrorisiert. 24 Menschen wurden bereits ermordet und 221 verletzt. Der Widerstand dort ist hier überall sehr präsent, weshalb ich mit vielen Menschen darüber reden konnte. Fast in jeder Familie, die wir besuchen wird Tişrîn zum Thema gemacht. Ob alt oder jung, politisch aktiv oder nicht, deutlich mehr Menschen als zuvor beschäftigen sich in dieser Zeit mit der politischen Lage und beziehen Position. Durch diese Begegnungen konnte ich inzwischen besser verstehen worum es hier eigentlich geht.
Wenn der Widerstand in Tişrîn bricht und die der Türkische Staat (mit seiner Proxi-Gruppe SNA) seinen Einfluss erweitert, werden deutlich mehr Menschenleben großer Gefahr ausgesetzt werden, als denen gerade am Damm. Deshalb machen sich hunderte Menschen aus allen Teilen der Region auf den Weg, um sich dem Widerstand anzuschließen. Es wurde organisiert, dass nacheinander die verschiedenen Städte und Regionen hinfahren, um kontinuierlich Wache zu halten. Es kommen viele alte Frauen und Männer, was mich sehr beeindruckt hat, aber auch die Jugend ist selbstverständlich am Start. Tagsüber wird vor allem getanzt. Geschützt werden die Menschen von den SDF, die ein paar Kilometer westlich vom Damm gegen die SNA und die Türkei kämpfen.
Ich denke ein entscheidender Unterschied zwischen der Gesellschaft hier und der in Mittel-Europa ist, dass die Menschen hier eine Idee haben wofür es sich lohnt sich einzusetzen und auch auf welche Art das möglich ist. Das wurde in den letzten 50 Jahren hier in mühevoller Kleinstarbeit aufgebaut. Nur so war es möglich vor zwölfeinhalb Jahren hier erfolgreich die Revolution zu starten und bis heute aufrecht zu erhalten. Das besondere an dieser Revolution ist, dass sie vor allem auf mentaler Ebene vollzogen wurde und wird. Es wird mit Menschen diskutiert, geredet, sich gegenseitig gebildet und so ein Verständnis darüber aufgebaut was demokratisch-freiheitliche Werte sind und wie nach ihnen gelebt werden kann. Auch wenn der Weg zur Freiheit bedeutet, dass Brüder, Schwestern, Kinder, Eltern, Freund:innen von uns ihr Leben geben müssen, was selbstverständlich niemand möchte, sieht die Gesellschaft die Notwendigkeit und ihre Verantwortung diesen Weg zu gehen.
Als ich ankam erzählten mir die Freundinnen von einer Demonstration. Die Menschen hatten sie organisiert, um die Solidarität mit der Mahnwache am Tişrîn Staudamm auszudrücken und gegen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu protestieren. Sie erzählten, dass ganze Schulen zu der Zeit der Demonstration geschlossen hatten, um sich ihr anzuschließen. Das fand ich sehr beeindruckend. Natürlich ging es um die Zukunft von ihnen allen, weshalb man sagen kann: „Ja logisch gehen die alle hin.“, doch das Gleiche galt ja auch für z.B. die Fridays for Future-Demonstrationen in Europa. Daran sieht man wie die Gesellschaft hier es geschafft hat nah aneinander zu rücken, obwohl hier so viele unterschiedliche Ethnien, Religionen, politische Ausrichtungen, Familienzugehörigkeiten… beieinander leben. Und natürlich ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen, aber es wurden schon große Schritte getan.
Auch aus unserer Stadt sind einige Autos nach Tişrîn gefahren. Als sie wieder kamen war die Straße vor dem Eingang in die Stadt komplett voll mit Menschen, die gespannt auf die Zurückkommenden warteten, um sie angemessen in Empfang zu nehmen. So wurde klar wie breit die Unterstützung der Aktion in der Gesellschaft war. Und noch mehr Menschen wurden Teil des Widerstandes von Tişrîn.
Ein paar Tage später war die Beerdigung der FreundInnen, die aus unserer Stadt am Staudamm gefallen worden sind. Dies war ein weiteres sehr berührendes Ereignis. Es kamen zich Autos zum Krankenhaus. Der Eingang war voll mit Menschen, die sich von den Freund:innen verabschieden wollten. Und auch der Platz vor dem Krankenhaus war komplett gefüllt. Unter Rufen wurden die Särge zum Auto begleitet. Es wurde kraftvoll gerufen: „Şehîd namirin!“, was bedeutet, dass die Gefallenen unsterblich sind.
Wenn ich mit Menschen in Europa darüber spreche wie in der Freiheitsbewegung Kurdistans mit den Şehîds (Gefallenen) stoße ich häufig auf Unverstandnis. Für einige klingt es so als würde hier gefeiert werden, dass Menschen gefallen sind. Doch dieser Eindruck täuscht. Wenn man in einer Realität lebt in der die eigene Kultur existenziell angegriffen wird und man sich dagegen verteidigt und sich gegen Genozid oder Assimilation stellt, ist es fast zwangsläufig, dass das nicht alle lebend überstehen. Ein Leben in Assimilation, in dem man seine Identität, seine Kultur, sein historisches Erbe aufgibt, ist aber kein würdevolles und freies Leben. Mit dieser Realität muss man einen Umgang finden, auch wenn es selbstverständlich eines der schlimmsten Erlebnisse ist einen Menschen zu verlieren. Das ist ja auch der Grund für den Widerstand, um eine freie Gesellschaft aufzubauen. Doch wenn man keinen Umgang mit der Trauer findet wird sie einem die Kraft nehmen und am Ende dazu führen, dass man sich nicht erfolgreich verteidigen kann. Die Strategie in der Freiheitsbewegung Kurdistans ist sich immer klar vor Augen zu führen wofür die Freund:innen ihr Leben gegeben haben. Dass sie es für eine Sache getan haben, die einen Sinn und ein Ziel hat und sie verpflichten sich, versprechen, dass sie diesen Weg fortführen werden, damit kein:e Freund:in umsonst ihr Leben gegeben hat. Denn das haben sie nicht. Jedes Leben, dass geschützt werden kann wird probiert zu schützen. Das kann aber in einer Welt mit Genozid und Assimilation nicht bedeuten jeden Tod zu verhindern. Denn dann muss man vor seinem Gegner einknicken, was wiederum zu Assimilation und Genozid führt. Sich das vor Augen zu führen hilft sich der Realität bewusst zu werden und den Schmerz besser verarbeiten zu können. Denn die gefallenen Freund:innen wollen auch nicht, dass wir von der Trauer ohnmächtig werden, sondern wollen, dass wir nur noch kraftvoller und entschlossener uns für Gerechtigkeit und Freiheit einsetzen.
Aber jetzt nochmal zurück zur Beerdigung. Gleichzeitig waren natürlich auch viele traurig, dass die Freund:innen jetzt nicht mehr physisch unter uns sind. Ich muss immer an die Mütter, die Geschwister, die Kinder von ihnen denken. Das macht mich traurig. Doch jetzt macht es mich vor allem wütend. Wie kann es sein, dass es Menschen gibt, die in irgendwelchen Büros sitzen und sich überlegen, dass es eine gute Idee ist Menschen umzubringen und dann auch noch welche, die friedlich Tänze tanzen. Warum müssen sie sich hier einmischen? Wieso lassen sie die Menschen nicht einfach in Ruhe? Sie machen doch nichts außer zu probieren friedlich zusammen zu leben!
Auf dem Friedhof wurden mehrere Reden gehalten, vom „Rat der Familien der Gefallenen“, von Angehörigen der Gefallenen und von der Organisation „demokratischer Islam“. Sie waren alle sehr stark und berührend. In der Rede des „demokratische Islams“ war es sehr schön zu sehen wie kritisch sie sich mit ihrer eigenen Religion auseinander setzen und nun probieren auf die eigentlichen demokratischen Werte zurück zu kommen. Diese wurden sehr deutlich in ihrer Rede.
Während der Beerdigung waren alle Geschäfte der Stadt geschlossen und auch wenn Menschen nicht gekommen waren, um an der Zeremonie teilzunehmen, kamen sie zumindest vor ihre Tür, um von dort aus ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Ich finde es zeigt sehr schön wie sich gegenseitig respektiert und berücksichtigt wird.
Ein paar Tage zuvor waren wir schon einmal im Krankenhaus gewesen, da ein Freund aus Tişrîn her gebracht worden war für eine OP. Er war an mehreren Stellen von einer Bombe, die zwei Meter neben ihm explodiert war, verletzt worden. Es war absurd so nah Menschen mitzuerleben, die den Angriffen durch Bomben ausgesetzt gewesen waren.
Was mich im Gebäude des Krankenhauses sehr beeindruckte war, dass die ganzen Wände voller Bilder von Şehîds hingen. Es war wieder so eine Kleinigkeit, doch durch diese wurde klar, dass hier etwas anders war. Auch an einigen Straßen und Plätzen wurden Schilder oder Denkmäler aufgestellt, die an die Gefallenen erinnern.
Auch sonst ist die Gestaltung der Straße hier sehr anders. Die Wände der verschiedenen Institutionen, die von der Gesellschaft organisiert sind, sind häufig bemalt mit bunten Bildern, die traditionelle Motive darstellen, wie zum Beispiel Menschen, die Instrumente spielen oder Mythologische Figuren. Auf anderen Wänden kann man Graffiti lesen wie „Bijî berxwedana Rojava!“ (Es lebe der Widerstand von Rojava!)/ „Bijî berxwedana YPJ/G / QSD!“ (Es lebe der Widerstand der Volksverteidigungseinheiten/ Frauenverteidigungseinheiten!)/… An dem Ort wo ich aufgewachsen bin ist man in den Straßen umgeben von Werbung und die Graffiti Kultur verliert leider auch immer mehr Bezug zu ihrem politischen Hintergrund. Es ist zwar eine Kleinigkeit, doch es zeigt, dass hier eben nicht ein Staat die Macht hat, sondern die Macht von der Gesellschaft übernommen wurde und geteilt wird. Auch der Einfluss durch den Kapitalismus, der probiert immer mehr bedeutungsvolle und politische Kultur zu verdrängt, ist hier geringer. Außerdem zeigt es wie präsent die Philosophie der Kurdischen Freiheitsbewegung ist, die solch schönes und großes Potential hat Lösungen für Frieden zu finden. Auch an anderen Orten dieser Erde kennen wir die Parolen, die man hier auf den Wänden lesen kann. Sie werden auf Demonstrationen gerufen, doch wo ich her bin finden sie sonst wenig Aufmerksamkeit und selbst auf den Demonstrationen werden sie häufig verboten, da sie „Terror“ propagieren. Doch wer macht hier Terror? Die kurdische Bevölkerung? Oder der Türkische Staat, der Politiker:innen und Journalist:innen ins Gefängnis steckt und außerhalb des von ihm bereits besetzten Gebiets probiert weiteres Land einzunehmen und dafür Zivilisten ermordet, mit Waffen aus unter anderem Deutschland, USA, Großbritanien und Frankreich und Kriegserlaubnis aus den USA?
Mir fallen immer noch mehr Sachen ein, die ich gern teilen möchte, doch jetzt komme ich erst mal zum Ende, nur noch eine Sache zum Abschluss.
Die Initiative für die Revolution ging vor allem von der kurdischen Gesellschaft aus, doch mit der Zeit haben sich immer mehr Kulturen und Religionen der Selbstverwaltung angeschlossen. Heute haben ArmerninerInnen, AssyrerInnen, AlevitInnen, ÊzidInnen, TurkmenInnen, ChristInnen (orthodox, protestantisch, katholisch) und Muslime/a eine Einheit in Vielfalt hier aufgebaut. Sie alle stehen gleichberechtigt nebeneinander und allen wird ermöglicht ihre Kulturen zu leben wie sie es möchten. Das bedeutet für das Leben in der Praxis, dass man am Tag erst die Imame von den Moscheen hört und dann die Kirchenglocken der verschiedenen Kirchen. Doch viele Kulturen bringen auch viele Feiertage mit sich, wodurch deutlich häufiger die Geschäfte, Schulen und Arbeitsplätze geschlossen haben. Wenn eine Kultur einen größeren Feiertag hat legen auch alle anderen ihre Arbeit nieder. Das hat den schönen Nebeneffekt, dass alle auch die Kulturen der anderen besser kennenlernen und die Kulturen endlich wieder im vollen Umfang gelebt werden können.
Damit möchte ich zum Ende kommen. Wenn ihr Fragen habt oder euch weitere Themen interessieren, könnt ihr sie uns gerne per Mail ([email protected]).
Wir senden euch viele revolutionäre Grüße!
Bijî berxwedana Tişrînê! Bijî berxwedana Rojava! #WeAreTishreen
Eure Freundinnen der jungen Frauen Kommune in Rojava