An die Deutsche Öffentlichkeit – Ein Brief von Yüksel Koc im Hungerstreik

Ich möchte mich Ihnen kurz vorstellen: Mein Name ist Yüksel Koç, ich bin 55 Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Seit 30 Jahren lebe und arbeite ich in Deutschland. Ich bin politisch aktiv und Co-Vorsitzender des KCDK-E (Demokratischer Gesellschaftskongress der Kurd*innen), des mit 457 Vereinen und Institutionen größten kurdischen Dachverbandes in Europa. 

Als Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan“ sind wir mit 13 FreundInnen, darunter 5 Personen aus Deutschland, am 17. Dezember 2018 in Straßburg in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Wir sind Funktionäre verschiedener Organisationen, Politiker, ehemalige HDP-Abgeordnete, Journalisten, Juristen, Akademiker und Frauenrechtlerinnen. 

Zuvor war Leyla Güven, die bis vor kurzem inhaftierte HDP-Abgeordnete und Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), am 7. November 2018 in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Ihre Forderungen nach einem Ende der Isolation des kurdischen politischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, welche gegen die allgemein gültigen UN-Menschenrechte verstößt, und einem Ende des Krieges, sind auch die Forderungen der 297 Hungerstreikenden in den Gefängnissen der Türkei, in Südkurdistan, Großbritannien, den Niederlanden, Kanada, Österreich, Deutschland und hier in Straßburg. 

Wie Ihnen bekannt ist, werden ihm seit sieben Jahren Besuche seiner Anwälte und seit drei Jahren seitens der Familie verwehrt. Dies stellt nicht nur einen schweren Verstoß gegen grundlegende Menschenrechte dar, sondern ist – nach Intensivierung der Isolation gegen Herrn Öcalan durch die faschistische AKP-MHP Regierung unter der Führung von Staatspräsident Erdoğan seit dem 6. April 2015 – Teil der unrechtmäßigen Ausweitung der Repressionen und Massaker gegen Oppositionelle und Demokraten in der Türkei, allen voran gegen die Kurden. Mit dem AKP-MHP Regime hat sich die Türkei gänzlich vom Rechtsstaat verabschiedet. Gewählte BürgermeisterInnen der HDP wurden durch Zwangsverwalter ersetzt und inhaftiert, ebenso zahlreiche Abgeordnete sowie auch die Co-Vorsitzenden der HDP. Tausende AkademikerInnen wurden aufgrund ihrer Forderung nach Frieden angeklagt und verloren ihre akademischen Titel und Arbeitsstellen. Menschenrechtler, Journalisten, kurz, alle Oppositionelle sind Repressionen ausgesetzt. Tausende Menschen wurden mittlerweile inhaftiert, erlitten und erleiden immer noch Folter. Hinzu kommt der völkerrechtswidrige Krieg gegen Kurden, Aramäer und Araber in Syrien. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde Afrin besetzt. Şengal, Lebensraum ezidischer Kurden als auch Südkurdistan werden bombardiert. Zivilisten verlieren hierbei ihr Leben. 

Diese Politik resultiert aus der von Präsident Erdoğan befohlenen Beendigung der in den Jahren 2011-2015 geführten Verhandlungen mit Abdullah Öcalan. Erst kam die Isolation von Herrn Öcalan, anschließend folgten Repressionen und Krieg gegen Kurden und sämtliche Oppositionelle. Dabei hatten die bewaffneten Auseinandersetzungen zu Zeiten der Verhandlungen zwischen Herrn Öcalan und dem türkischen Staat ein Ende genommen und es gab keine Toten. Jeder konnte zu der Zeit seine Meinung für eine Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei weitgehend frei zum Ausdruck bringen und diesbezüglich Bestrebungen zeigen. Das Projekt des gemeinsamen, gleichberechtigten und freiheitlichen Zusammenlebens aller Ethnien, Geschlechter und Religionen, welches in Rojava praktiziert wird, wurde mit den Wahlen vom 7. Juni 2015 auch in der Türkei eingeführt. Die HDP, bei dessen Gründung Herr Öcalan wesentlicher Ideengeber war, gelang mit 13% der Stimmen der Einzug in das Parlament. Kurden, Türken, Armenier, Aramäer, Lazen, Tscherkessen, Aleviten, Eziden, Christen und Muslime waren dort nun vertreten. Auch Frauen zogen gleichberechtigt repräsentiert ins Parlament. 

Die Hoffnung auf Frieden und Demokratie in der Gesellschaft hatte durch diese demokratische Entwicklung zugenommen. Exakt an diesem Punkt hat Präsident Erdoğan den Dialog mit Herrn Öcalan beendet und das Land in ein offenes Gefängnis umgewandelt. Anschließend griff er mittels barbarischer Banden wie dem IS und der al-Nusra-Front Rojava an und transferierte so die kurdenfeindliche kriegerische Politik über die Grenzen der Türkei hinaus. 

Die Öffentlichkeit muss wissen, dass wir das Leben sehr lieben und wir, wie auch Gandhi damals, in den Hungerstreik getreten sind, damit Krieg und Massaker keine Menschenleben mehr kosten. Unsere Aktion führen wir nicht allein für die Kurden durch, sondern für ein freies und gleichberechtigtes Zusammenleben aller Kurden, Türken, Araber, Aramäer, Armenier, Turkmenen, Perser, Aleviten, Muslime, Eziden, Christen, Frauen, Jugendlichen, Akademiker und Journalisten in Kurdistan, der Türkei und dem Nahen Osten.   

Ich weiß, dass die deutsche Öffentlichkeit, diese humanistischen Forderungen unterstützt. 

Wir alle wissen, dass Deutschland und die Türkei intensive politische, ökonomische, militärische und diplomatische Beziehungen pflegen. Meine FreundInnen und ich sind überzeugt, dass Deutschland bei der Umsetzung der Beschlüsse der parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 22. Januar 2019 eine Führungsposition einnehmen und seinen Einfluss für eine Lösung des Problems geltend machen kann. Daher sollte die Bundesregierung, die im Hinblick auf die Gesundheit der aus Deutschland stammenden Hungerstreikenden ebenfalls in der Verantwortung steht, ihre Bemühungen forcieren und eine Transformation ihrer Kurdenpolitik im Sinne der Demokratisierung der Türkei und der Lösung der kurdischen Frage einleiten. Eine Einflussnahme auf die Türkei für Demokratie und Frieden im Sinne der Beschlüsse der parlamentarischen Versammlung des Europarates und ein Aufruf, den Forderungen der Hungerstreikenden nach Einhaltung und Umsetzung der Menschenrechte und Friedensverhandlungen nachzukommen, wären erste Schritte, bevor es noch Tote zu beklagen gibt.   

Am 59. Tag unseres Hungerstreikes befinde ich mich, sowie 7 weitere FreundInnen, gesundheitlich an einem kritischen Punkt. Dennoch werden wir unseren Hungerstreik fortführen, bis unsere Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte und Friedensverhandlungen erfüllt sind. Wir rufen die Politik dazu auf, alles Erdenkliche zu tun, um Todesfälle zu vermeiden und diese Forderungen umzusetzen. 

Als Friedensaktivisten sind unsere Forderungen im Hinblick auf Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, Frauenfreiheit und ein Ende des Krieges gleich. Wir bitten die Öffentlichkeit in Deutschland, als Vermittler sowie Unterstützer dieser Forderungen zu fungieren und so die Regierung und verantwortliche Institutionen zum Handeln zu bewegen. 

Im Namen aller Hungerstreikenden

Yüksel Koç

Co-Vorsitzender des KCDK-E

Strasbourg, 13. Februar 2019

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