Rojava zu verteidigen, heißt Abdullah Öcalan verteidigen

An manchen Tagen können wir vor lauter Feinden den Himmel nicht mehr sehen. Die Apokalypse scheint wahrscheinlicher als das Ende des Kapitalismus und wir sind wie umzingelt von patriarchalen Angriffen – in uns und um uns herum. Manchmal kann ich nicht mehr daran glauben, dass wir Revolution machen können – Revolution was bedeutet das überhaupt? Ein anderes Leben? All das scheint so fern, so abstrakt – wirklich wie eine ferne Utopie. Und in all dieser linken Depression ist Rojava wie ein riesiger Hoffnungsschimmer. Rojava das ist eine Revolution im 21. Jahrhundert. Das ist eine Revolution, die so viele Kämpfe, so viele Ideen verbindet – eine Gesellschaft die sich selbst organisiert, eine Gesellschaft ohne Staat, eine Gesellschaft auf der Grundlage von Geschlechterbefreiung und Ökologie. Eine antifaschistische Revolution gegen Kolonialismus, gegen Imperialismus. Rojava ist der Beweis das ein anderes Leben doch möglich ist – Rojava ist eine gelebte Utopie, eine gelebte Vision davon wie die Welt nach dem Kapitalismus aussehen könnte und wie wir dort hin gelangen können. Rojava ist eine Perspektive in einer Zeit voll von Angriffen.

Wenn man über Rojava spricht, dann muss man auch über Abdullah Öcalan sprechen – so oft auf Demos sieht man die Bewunderung in den Gesichtern wenn es um Rojava geht, die gemeinsamen Rufe Jin Jiyan Azadi – und dann kommen die Bilder von Öcalan oder eine Rede für seine Freiheit und in den Gesichtern entsteht diese angestrengte Stirnfalte. Rojava ist toll, aber Öcalan? Lieber nicht. Was wollen die Kurden bloß immer mit dem, steht in den Gesichtern geschrieben. Da ist diese riesen Distanz – und ich frage mich warum? Und ich denke – das ist gefährlich!

Wer Öcalan ignoriert verpasst eigentlich das beste an revolutionärer Philosophie und Praxis was das 21. Jahrhundert zu bieten hat. Ohne Öcalan und die PKK wäre die Revolution in Rojava nie möglich gewesen. Es ist seine Philosophie und auch sein politischer Kampf auf der die Revolution in Rojava aufgebaut ist.

Revolution entsteht nicht an einem Tag und Öcalans Philosophie und die Revolution in Rojava ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses von Kampf und Organisierung, Die Wurzeln der Revolution in Rojava liegen weit zurück, mindestens in den 70er Jahren – im zweiten großen Revolutionszyklus des 20. Jahrhunderts, mit all den feministischen, anti-kolonialen und antifaschistischen Kämpfen. In dieser Zeit beginnt Öcalans philosophischer und politischer Kampf. 1978 gründete Öcalan die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK – als Antwort auf die brutale Unterdrückung und kulturelle Vernichtung der Kurdinnen und Kurden – das Ziel ein eigener Staat. Die PKK begann als eine von vielen marxistisch-leninistischen nationalen Befreiungsbewegungen. Es gab viele revolutionäre Bewegungen im 20. Jahrhundert, viele haben Revolution gemacht, viele sind zu herrschenden Parteien neuer Nationalstaaten geworden und noch mehr sind zerschlagen worden – vor allem in den 90er Jahren. Die PKK aber ist einen anderen Weg gegangen, sie ist nicht zerschlagen worden, sondern hat den Weg für Revolutionen im 21. Jahrhundert, für die Revolution in Rojava bereitet. Es lohnt sich ein Blick auf die 90er Jahre um das genauer zu verstehen.

Die 90er Jahre waren eigentlich die Zeit der großen Konterrevolution, das Ende der UDSSR, das sogenannte ‚Ende der Geschichte‘, das erstarken der neoliberale Wende und der erneute Aufstieg des Faschismus überall auf der Welt. Fast alle Freiheitsbewegungen sind in dieser Zeit in eine tiefe Krise gefallen – die Welt hat sich rasant geändert, aber eine gemeinsame linke Analyse und Perspektive ist verschwunden. Der Glaube an Revolution ist verloren gegangen und viele revolutionäre Bewegungen haben ihren Kampf aufgegeben, haben sich mit dem Staat arrangiert oder sind zu kleinen kontrollierbaren Subkulturen geschrumpft. Die Krise der 90er Jahre war vor allem auch eine philosophische Krise – die linken Ideen und Analysen des 20. Jahrhunderts sind an ihre Grenzen gekommen – viele Bewegungen sind an sich selbst gescheitert.

In dieser großen geistigen Krise der Linken intensiviert Öcalan seine Bemühungen eine neue revolutionäre Theorie und Praxis zu entwickeln. Er analysiert die Geschichte – die Geschichte von Widerstandsbewegungen, den anarchistischen, feministischen und anti-kolonialen Widerständen und die Geschichte der Herrschaft bis zu den ersten Wurzeln – der Begründung des Patriarchats vor 5000 Jahren. Er überdenkt die Analysen des Marxismus und entwickelt ein neues Verständnis von Geschichte, von Revolution, von Gesellschaft, von Herrschaft – und sucht nach Antworten darauf warum die revolutionären Bewegungen der letzten Jahrhunderte gescheitert sind und was man daraus lernen muss. Und er frage was unser Ziel – ein freies Leben – eigentlich genau bedeutet.

Öcalan begründet den demokratischen Konföderalismus als neues revolutionäres Konzept und die PKK nutzt die Krise der 90er Jahren und macht Revolution, eine geistige, philosophische Revolution – eine Revolution in sich selbst. Sie ändert ihr Paradigma und gibt das streben nach einem eigenen Staat auf – denn Staaten sind Teil des Problems und ein freies Leben kann in einem Staat niemals möglich sein. Auf dieser Grundlage wird auch Geschlechterbefreiung zum Mittelpunkt des Kampfes – denn das Patriarchat ist die erste aller Herrschaftsformen und ohne die Befreiung der Frau kann die Gesellschaft niemals frei werden. Und so wie heute in Rojava die Frauenbewegung das Herz und der Motor der Revolution ist, so ist es auch in der PKK – von ihrer eigenen Frauen Guerilla YJA-Star bis zur Zwillingspartei der PKK, der autonomen Frauenpartei PAJK. Und auch die Frage nach Beziehung wird zum Mittelpunkt des Kampfes – denn Herrschaft funktioniert durch die Herstellung bestimmter Beziehungen – zu uns selbst und zu einander. Wenn wir nicht das Patriarchat in unseren Beziehungen eliminieren können, wie können wir das freie Leben aufbauen? Hevjiyana Azad und Hevalti ist die Suche nach Selbst-sein [Xwebûn], die Suche nach freien Beziehungen, die nicht mehr geprägt sind von 5000 Jahren Unterdrückung.

Öcalans Philosophie ist Theorie aber Öcalans Philosophie ist auch eine Praxis. In Rojava wurde seine Philosophie zur Revolution – zur gelebten Utopie.

Öcalan ist gefährlich.

Öcalan und die PKK haben Revolution gemacht. Eine Revolution die heute Millionen Menschen Hoffnung gibt und das ist gefährlich. Denn wenn sich die Ideen des demokratischen Konföderalismus weiter verbreiten, wenn Menschen wieder anfangen wirklich an Revolution, an ein anderes Leben zu glauben, wenn es eine konkrete reale Alternative zum Kapitalismus gibt – dann haben wir eine Chance die Verhältnisse wirklich zu verändern. Revolution zu machen, eine echte Revolution, die keine ferne Zukunft ist, sondern unsere Gegenwart sein kann.

Nichts ist gefährlicher als der Glaube an Veränderung! Das ist auch den herrschenden Nationalstaaten bewusst und sie haben seither viel unternommen um Öcalan und die PKK zu stoppen. Öcalan wurde 1999 durch eine Geheimdienstaktion mehrerer Staaten aus der griechischen Botschaft in Kenia entführt und ist seitdem – seit 22 Jahren – in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali. Jahrelang ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Öcalan ist neben allem anderen ein politischer Gefangener der seit 22 Jahren gefoltert wird. Die Staaten haben Angst vor Öcalan – und wie groß ihre Angst ist, sieht man an den grotesken Zügen, die die Repression gegen ihn und die kurdische Befreiungsbewegung angenommen haben. Ein Beispiel – das Bilderverbot. In Deutschland gibt es nur zwei Personen deren Bild öffentlich verboten ist. Öcalan und Hilter.

Öcalans Freiheit fordern heißt am freien Leben festhalten.

Das Öcalan heute in der linken Bewegung in Europa so unbekannt ist hat viele Gründe. Einer davon ist sicher Orientalismus und Rassismus, denn hätte ein europäischer Philosoph oder Aktivist auch nur halb so viel erreicht oder nur halb so viele Menschen inspiriert wie Öcalan, würde er vermutlich gehypt werden wie ein halber Gott. Aber die Distanz der Linken zu Öcalan liegt auch an einer sehr erfolgreichen Isolations- und Repressionspolitik. Diese Isolation müssen wir durchbrechen. Es gibt eigentlich hundert Gründe für Öcalans Freiheit einzutreten. Sei es das er ein politischer Gefangener ist. Sei es das er ein anti-kolonialer Freiheitskämpfer ist. Sei es das seine Philosophie und sein Kampf eine neue Revolution gestartet haben. Öcalans Philosophie zeigt neue Wege für eine Revolution im 21. Jahrhundert – und wir wagen die Behauptung Rojava ist erst der Anfang. Die Idee des demokratischen Konföderalismus wird Revolutionen weltweit in den nächsten Jahrzehnten beeinflussen und hervorbringen.

Rojava ist ein Hoffnungsschimmer. Und Öcalan auch. Für Kurdinnen und Kurden, aber auch für alle von uns, die wir auf einem anderen Leben, auf einem freien Leben beharren. Rojava zu verteidigen, bedeutet nicht nur ein Stück Land zu verteidigen, es bedeutet die Philosophie dahinter zu verteidigen und sie in die ganze Welt hinaus zu tragen – sie zum Albtraum des Kapitalismus zu machen. Rojava verteidigen heißt auf der ganzen Welt Revolution machen und das freie Leben suchen. Und Rojava verteidigen heißt auch für Öcalans Freiheit zu kämpfen – für ein Ende seiner Isolation.

Dem Dema Azadi Ye – Es ist Zeit für Freiheit

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